Medien und Politik können PEGIDA nicht greifen. Es gibt weder einen wahren Anführer, noch Kompetenzstrukturen oder eine gerichtete Kommunikation nach Außen. Alle demonstrieren und kommentieren wie es ihnen beliebt und lassen sich einen Maulkorb verpassen, wenn sie von Medienvertretern direkt angesprochen werden. Das diffuse Rampenlicht bei Facebook und auf den Straßen und Plätzen fördert dabei radikale und extreme Ansichten zutage – wer am lautesten schreit, findet Beachtung. Inzwischen hat auch der letzte kapiert, dass die Sozialen Netzwerke kaum mehr als verlängerte Stammtische sind.
Zunächst erinnert dieses Chaos jedoch an andere Protestbewegungen. Ohne feste Struktur stellte sich die spanische Protestbewegung Movimiento 15-M der Öffentlichkeit – freilich mit heheren Zielen. Dort rotierten die Sprecher täglich, während intern sehr intensiv debattiert und abgestimmt wurde. Auch die Piratenpartei schockierte die Medien durch eine unkoordinierte Kommunikation auf hunderten Kanälen (Wiki, Blogs, twitter, Mailinglisten). Die angestrebten basisdemokratischen Grundsätze verhinderten selbst Stellungnahmen der intern gewählten Vertreter, welchen die Rolle von Vermittlern und Verwaltern zugesprochen wurde. Die Piraten waren inhaltlich ähnlich homogen und fungierten lange Zeit als Sammelbecken diverser politischer, vor allem linker Strömungen. 15-M und die Piraten sprachen sich jedoch für Innovationen aus. Bei PEGIDA überwiegt eine kulturpessimistische Grundeinstellung, die ich als Kern der Bewegung begreife. Kulturpessimisten glauben an einen ständigen Abstieg von einem guten oder idealen empfundenen Urzustand. Insbesondere der Fortschritt in allen Kulturbereichen wird pessimistisch gesehen. Dabei geht es nicht allein um den technischen, sondern insbesondere den damit immer einhergehen gesellschaftlichen Fortschritt. Anhand der folgenden vier Beispiele möchte ich diese Denkweise versuchen zu erklären:
- Supranationale Demokratie und Staatswesen: Die Komplexität der föderalen und bundesdeutschen Staatsform mit seinen Gremien, Prozessen und Gesetzen wird durch Einbindung in die EU noch einmal übertroffen. Wie Leopold Korr und Kurt Schumacher schon predigten, wünschen sich nicht wenige ein Europa der (überschaubaren) Regionen. Die Unabhängigkeitsbewegungen in Schottland, Baskenland und Flamen geben Beispiele dafür ab.
- Pluralistische Gesellschaft: Eine Vielfalt an Kulturen, Sprachen, Religionen, politischen Gesinnungen, Genderisierung und nicht zuletzt an Lebensentwürfen gehört zu unserem Alltag. Wer damit zurecht kommen möchte, benötigt einen differenzierten Überblick über das gesellschaftliche Spektrum und vor allem Empathie für die Andersdenkenden. Die Fähigkeit zur Empathie ist in Anbetracht von Kriegen, Post-Kolonialismus und Umweltzerstörung zentral.
- Globaler Wettbewerb: Unternehmen sehen sich einem globalen Wettbewerb konfrontiert und agieren ebenso global. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa hat diesen Wettbewerb auch auf dem Arbeitsmarkt übertragen. Voraussetzung für diesen Wettbewerb sind die technischen Mittel zur Kommunikation und Mobilität.
- Automatisierung/Digitalisierung: Die Automatisierung in der Produktion und die Digitalisierung im Dienstleistungssektor fordert Arbeitsplätze von weniger qualifiziertem Personal. Die Verdrängung des Menschen durch Maschinen verlangt den Betroffenen die Fähigkeit zur Beherrschung Maschinen ab. Nicht jeder ist dazu im Stande. Wer Technologie nicht beherrscht, wird von ihr mitbeherrscht (z.B. NSA, Datenschutz im Social Web, Fahrzeugnavigation, ect.). Problematisch ist dabei insbesondere die Geschwindigkeit der Vorgänge, namentlich die kurzen Innovations- und Produktzyklen, aber auch rasanten Abläufe wie im elektronischen Börsenhandel (vgl. Paul Virillo).
Die Überforderung mit dem wirtschaftlichen, technologischen und organisatorischen wie auch dem gesellschaftlichen Fortschritt wälzt PEGIDA insbesondere auf Asylbewerber ab. Asylsuchende sind in unserer Gesellschaft am schlechtesten gestellt. Sie werden schlecht finanziert, besitzen kaum Bewegungsfreiheit, haben kein Recht auf Arbeit und sind von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen. Und sie sind in der Minderheit. Sie können sich zahlenmäßig ohne unsere Unterstützung nicht (politisch) wehren. Die eingangs genannten vier kulturpessimistischen Perspektiven finden sich mehr oder weniger versteckt in den Kommentaren und auf den Transparenten von PEGIDA wieder: Europa soll die Einwanderungspolitik neu regeln; die ethnische Herkunft soll im Strafrecht berücksichtigt werden; usw.
Ich denke es ist wichtig diesen Ausdruck von Überforderung ernst zu nehmen und von den Parolen zu abstrahieren. Es gibt in Deutschland bisweilen keine Partei, die sich gegen den Fortschritt stellt. Nicht einmal die Wachstumskritiker stellen sich gegen soziale oder technische Innovationen. Dies wäre auch eine unpassende Antwort die bestehenden Probleme weltweit (z.B. Millennium Entwicklungsziele, Kyoto-Ziele, ect.).
Die Glorifizierung des Gestrigen (Ostalgie/DDR) und das typisch deutsche “früher war alles besser” kocht übrigens nicht zum ersten mal hoch. Bereits Hitler knüpfte argumentativ an die Zeit vor dem 1. Weltkrieg an und schon während der Weberaufstände im 18. und 19. Jahrhundert gaben die arbeitslos gewordenen Weber den Maschinen und Fabrikanten die Schuld an ihrer (nicht unbedingt selbstverschuldeten) Misere. Es gibt sicher treffendere Beispiele aus der Geschichte, von denen wir hier in Dresden und Sachsen lernen können, wie ein überfordertes Volk zu einem bürgerlich liberaleren Kurs finden kann.