Der Herrnhuter Stern: Nur echt mit 110 Zacken

Der Grundkörper des klassische Herrnhuter Sterns ist ein 26-seitiger Rhombenkuboktaeder, der aus 18 Quadraten und 6 Dreiecken besteht. An einer Seite hängt das Lämpchen drin, so dass nur 25 Zacken vorhanden sind. Bastelanleitungen für den Grundkörper findet man beispielsweise hier. Original Herrnhuter Sterne sind jedoch markenrechtlich geschützt und dürfen nicht ohne Lizenz angefertigt werden. Das eigentliche Original dieser Weihnachtssterne hatte jedoch 110 Zacken und wurde 1820 von Christian Madsen in Niesky, also 30 km nördlich von Herrnhut erfunden. Ein Exemplar dieses Sternentyps hängt heute noch in der Herrnhuter Kirche. Ein Gruppe von Bastlern fertigte diesen in aufwendiger Handarbeit. In den USA lud ein gewisser Max Brady Kurse zum Bau der 110-Zacker ein. Doch die Bauanleitungen sind nicht frei verfügbar. In dem Buch über Bauweisen verschiedener Herrnhuter Sterne fehlt der 110-Zacker. Den Fotos nach zu urteilen, besteht der 110-Zacker jedoch höchstens aus achteckigen und etwas kleineren sechs- und viereckigen Flächen. Aufgrund der 110 Flächen wirkt der Grundkörper wie eine kantige Kugel. In diesem Beitrag möchte ich die Frage beantworten, wie sich ein 110-Zackiger Stern und insbesondere sein Grundkörper konstruieren lässt.

Im Folgenden beschreibe ich zunächst wie sich aus einem 6-Zackigen Stern mit einem Würfel als Grundkörper, ein Rhombenkuboktaeder, dass heißt ein Grundkörper für einen Herrnhuter Stern konstruieren lässt. Mit Hilfe mathematisch-geometrischer Formeln und etwas Kombinatorik erweitern wir anschließend den Rhombenkuboktaeder zu einem Grundkörper mit 110 Flächen. Daraus ergibt sich  eine Bastelanleitung für den 110-Zacker, bei der man die Seitenlänge selbst bestimmen kann. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zu den Größenverhältnissen der Sterne und der daraus resultierenden wahrgenommenen Ästhetik.

6-Zacker mit einem Würfel als Grundkörper

Der sechsseitige, regelmäßige Grundkörper ist trivial. Für Kinder lässt sich ein solcher Stern recht einfach bauen. Als Grundkörper nimmt man einen Würfel, bspw. mit einer Kantenlänge von 4 cm. Beim Aufzeichnen der Mantelfläche sollten Klebefalze bedacht werden. In jede Seitenfläche ist ein mittiger Kreis mit einem Radius von 1,5 cm zu schneiden, um die Zacken von Innen hindurch führen zu können. Die sechs Zacken schneidet man aus einem Kreis mit einem Radius von 7 cm aus. Für jede Zacke bedarf es eines Kreissegments von 54°.

26-Zacker mit Grundkörper eines Rhombenkuboktaeder

Um aus einem würfelförmigen Grundkörper einen 26-flächigen Rhombenkuboktaeder zu erzeugen, ersetzt man jede der sechs quadratischen Seitenflächen des Würfels durch jeweils drei kleinere, L-förmig angeordnete Quadrate. Dadurch entstehen insgesamt 18 neue quadratische Flächen. Die ursprünglichen Ecken des Würfels werden durch Dreiecke ersetzt, die zwischen den angrenzenden kleinen Quadraten aufgespannt werden. Auf diese Weise erhält der Rhombenkuboktaeder zusätzlich 8 dreieckige Flächen. Insgesamt besitzt der so entstandene Körper also 18 quadratische und 8 dreieckige Flächen, was zu den insgesamt 26 Flächen führt.

Um zu überprüfen, ob es sich bei dem Rhombenkuboktaeder um einen konvexe Polyeder handelt, nutzen wir die Euler-Charakteristik zur Probe. Die Formel besagt: Flächen + Ecken – Kanten = 2. Der Rhombenkuboktaeder hat 18 quadratische Flächen und 8 dreieckige Flächen Insgesamt hat er somit 18 + 8 = 26  Flächen. Der Rhombenkuboktaeder hat insgesamt 24 Ecken. Das ergibt sich aus der Struktur des Körpers, da jede Ecke des ursprünglichen Würfels durch die Verbindung von Dreiecken und Quadraten zu neuen Ecken führt. Jede quadratische Fläche hat 4 Kanten, insgesamt für 18 Quadrate: 18 × 4=72. Jede dreieckige Fläche hat 3 Kanten, insgesamt für 8 Dreiecke: 8 × 3 = 24. Da jedoch jede Kante zwischen zwei Flächen liegt, wird jede Kante doppelt gezählt. Die Gesamtzahl der Kanten beträgt also (72 + 24) / 2 = 48 Kanten.
Setzen wir die Werte ein: Flächen + Ecken − Kanten = 26 + 24 − 48 = 2. Die Probe für diesen Vertreter eines konvexe Polyeder mit der Euler-Charakteristik war somit erfolgreich.

110-Zacker: Das Original mit 110 Zacken

Stern Herrnhut

Ausgangspunkt für den 110-Zacker ist der zuvor konstruierte 26-flächige Rhombenkuboktaeder. Dieser besteht aus 8 Dreiecke und 18 Vierecke und hat somit Insgesamt 26 Flächen. Die ursprünglichen 8 Dreiecke werden jeweils so modifiziert, dass sie zu Sechsecken (S) erweitert werden. Dies geschieht, indem je zwei neue Kanten an den ursprünglichen Dreiecksseiten hinzugefügt werden. Die ursprünglichen 18 Vierecke werden zu Achtecken (A) erweitert, indem jede Ecke des Vierecks “abschnitten” wird.
An jeder Kante zwischen den neu entstandenen Sechsecken und Achtecken wird ein weiteres Quadrat (Q) eingefügt, um die Flächenzahl zu erhöhen und die Struktur weiterhin konvex (nach außen gewölbt) zu halten. Damit ist der 110-Zackige Grundkörper aber noch nicht vollständig.

Ob auch der 110-flächige Grundkörper ein konvexer Polyeder ist können wir wieder mit der Euler-Charakteristik überprüfen: Flächen + Ecken − Kanten = 2. Die Anzahl der Fläche ist mit 110 gegeben. Jede Fläche hat eine bestimmte Anzahl von Kanten K, und jede Kante wird zwischen zwei Flächen geteilt. K = 1/2 * (A * 8 + S * 6 + Q * 4). Die Anzahl der Ecken E: E = (2 * K) / Anzahl_Kanten_pro_Ecke. Da an jeder Ecke drei Kanten zusammentreffen, ergibt sich für E: E=2/3 * K.

Wir beginnen zunächst damit die Variablen in der Euler-Charakteristik zu bestimmen: F + E – K = 2. Wir wissen, dass F, die Summe aller Flächen,  110 betragen soll, d.h. F = A + S + Q = 110. Der Zusammenhang zwischen der Anzahl an Ecken E und Kanten K ist ebenfalls bekannt, da sich an jeder Ecke immer genau drei Kanten treffen und jede Kante mit zwei Ecken verbunden ist. Es gilt somit E = 2/3 * K. Wir können F und E somit in die Formel der Euler-Charakteristik einsetzen und erhalten: 110 + 2/3 * K – K = 2. Für K, die Anzahl an Kanten ergibt sich der Wert 324.

Wir wissen damit noch nicht, aus wie vielen Achtecken A, Sechsecken S und Quadraten Q der Grundkörper besteht. Mögliche Werte für A, S, Q und K müssen jedoch ganzzahlig und, aufgrund der Symmetrieeigenschaften der konvexen Polyeder, durch 2 teilbar teilbar sein. Wir können zudem annehmen, dass es von jeder Form mindestens 8 Flächen gibt, da bereits der Rhombenkuboktaeder mindestens 8 Flächen einer Form hat. Rechnet man nun alle verbleibenden Kombinationen von A, S und Q durch, ergeben sich 19 verschiedene Kombinationen für die Werte, so dass deren Summe F = 110 beträgt. Die Werte für A steigen in 2er-Schritten von 14 bis 44. S fällt in 2er-Schritten von 76 bis 16, während Q in der gleichen Schrittfolge von 20 bis 50 steigt. Folglich gibt es theoretisch keine eindeutige Lösung und nicht nur eine Möglichkeit, einen 110-seitigen Grundkörper zu bilden. Es kann jedoch angenommen werden, dass weitaus weniger als 19 Kombinationen von A, S, und Q gibt, die sich geometrisch zu einem kugelartigen Körper zusammensetzen lassen. Aus dem obigen Foto des Skeletts kann man entnehmen, dass es mehr Sechsecke, als Achtecke und Vierecke gibt. Damit reduziert sich die Anzahl an möglichen Kombinationen auf 12.

Tabelle 1: Theoretische Kombinationen von Achtecken, Sechsecken und Quadraten für 110-Seitige konvexe Polyeder
Anzahl Achtecke (A) Anzahl Sechsecke (S) Anzahl Quadrate (Q)
14 76 20
16 74 22
18 72 24
20 70 26
22 68 28
24 66 30
26 64 32
28 62 34
30 60 36
32 58 38
34 56 40
36 54 42
38 52 44
40 50 46
42 48 48
44 46 50

Man erkennt auf dem Foto, dass die beiden sich drei mal im rechten Winkel kreuzenden und den Körper umspannenden Bänder aus der Folge A, Q, S, S, Q, A, Q, S, S, Q, A, Q, S, S, Q, A, Q, S, S, Q bestehen. Folglich gibt es mindestens 6*A, 16*S und 16*Q. Jedes Achteck berührt an den Diagonalen  weitere vier Achtecke, so dass es mindestens 6 * 5 Achtecke geben muss.

Anhand dieser Einschränkungen bleibt nur eine der theoretischen Lösung übrig, demnach der 110-Seitige Grundkörper aus 32 Achtecken, 40 Sechsecken und 38 Quadraten besteht. Die Abmessungen der Flächen sind einfach festzulegen, da alle Seitenlängen der drei Flächen gleich lang sind und es sich um regelmäßige Vielecke handelt, deren Seitenflächen alle gleich lang sind.

Überlegungen zu den Größenverhältnissen

Die konkreten Abmessungen von Grundkörper und Zacken kann man einer Variante des Herrnhuter Originals entnehmen. Anhand der mittlerweile großen Produktpalette fällt auf, dass es spitzere und gedrungenere Varianten des Sterns gibt.

Tabelle 2: Größen (in cm) und Verhältnisse der Grundkörper und Zacken handelsüblicher Herrnhuter Sterne
Durchmesser Grundkörper Lange Zacke Kurze Zacke Verhältnis Körper-Zacke Verhältnis Zacken
11,4 14,3 9,5 0,8 1,5

Es gibt dabei zwei interessante Größenverhältnisse, die sich auf die wahrgenommene Ästhetik eines Sterns auswirken. Zum einen ist es das Verhältnis aus der Größe des Grundkörper und der Länge der (längsten) Zacken. Zum anderen ist es das Längenverhältnis der unterschiedlichen Zacken. Anstatt diese Verhältnisse zufällig oder per Augenmaß zu bestimmen, gibt es jedoch in der Kunst und Gestaltpsychologie bewährte Größenverhältnisse wie den Goldenen Schnitt, die auch bei den Herrnhuter Sternen zur Anwendung kommen könnten. Tatsächlich beträgt das Verhältnis zwischen Grundkörper und Zacke 0,8. Auch zwischen den Zacken ist ein Verhältnis von 1,5 festzustellen.

Diese Verhältnisse orientieren sich also nicht am Goldenen Schnitt. Dazu müsste die Länge der Zacken im Verhältnis von 1,618 zueinander stehen. Hat der Grundkörper beispielsweise einen Durchmesser von 10 cm, so sollten die langen Zacken etwa 16,2 cm und die kleinen ebenfalls 6,2 cm lang sein. Ob Sterne mit diesen Größenverhältnissen gedrungen oder abstoßend spitz wirken, käme auf einen Versuch an.

Zu guter Letzt bleibt die Frage, wie viele Zacken ein schöner Weihnachtsstern überhaupt braucht. Die Wahrnehmung beeinflussen hierbei die empfundene Einfachheit in Abgrenzung zu einem trivialen vierzackigen Stern. Einfachheit kann durch die Anzahl unterschiedlicher Flächen des Grundkörpers und somit auch der Anzahl unterschiedlicher Zacken bestimmt werden. Während nur eine Fläche und Zacke wie beim vierzackigen Stern zu simple oder trivial erscheint, gewinnt der 26-seitige Grundkörper mit den zwei unterschiedlichen Zacken an Interessantheit. Dies nicht zuletzt, weil seine Form bereits nach kurzer Betrachtung nachvollziehbar ist. Beim 110-Zacker ist dies nicht mehr unbedingt der Fall, da allein regelmäßige Achtecke, anders als Vier- oder Sechsecke, von den meisten Menschen nicht mehr als eine Einheit erfasst werden können. Man beginnt die Kanten oder Ecken zu zählen und muss sie aufmerksam von den ähnlich erscheinenden Sechsecken differenzieren.

Angesichts der hohen Zahl von Flächen bleibt ohnehin die Frage, ob die Betrachter:innen den komplexen Körper nicht ohnehin zu einer Kugel ergänzen. In der Gestaltpsychologie ist dieses Phänomen als Gesetz der Prägnanz bekannt. Es besagt, dass das menschliche Wahrnehmungssystem dazu tendiert, einfache, regelmäßige und symmetrische Formen zu bevorzugen und komplexe oder unregelmäßige Formen in möglichst einfache, bekannte Strukturen zu organisieren. Konvexe Polyeder werden demnach als Annäherungen an die Form einer Kugel wahrgenommen – ganz gleich wie viel Mühe wir uns mit der Konstruktion konvexer Polyeder geben. Der Herrnhuter Stern ist oberflächlich betrachtet also eine mit Zacken verzierte Kugel. Dennoch stellt der Grundkörper dieses Sterns einen guten Kompromiss dar, um als Kugel wahrgenommen und trotzdem mit einfachen geometrischen Formen konstruiert und gefertigt werden zu können.

Symmetrie ist eine weitere, die ästhetische Wahrnehmung bestimmende Eigenschaft. Während Symmetrie in der Fläche für uns leicht zu erfassen ist, bedarf zur Erkennung von Symmetrie in räumlichen Gegenständen eine Betrachtung von mehreren Seiten. Auch hier erschwert die zunehmende Anzahl unterschiedlicher Flächen, das Erkennen von Symmetrie. Während der 26-Seitige Grundkörper drei Bänder aus quadratischen Flächen aufweist, sind es beim 110-Seitigen Grundkörper schon Reihen von drei unterschiedlichen Flächen, die ein oder auch zwei mal in Folge auftreten können. Der Herrnhuter Stern in seiner verbreiteten Variante ist also ein guter Kompromiss zwischen einfachen Formen und gerade noch erfassbaren geometrischen Formen. Das Produkt stellt einen notwendigen Anspruch an die Betrachter, überfordert sich jedoch (zumeist) nicht. Der 110-Zacker bleibt hingegen der Auffassungsgabe voraus und deshalb dem Ladentisch fern.

ECTEL 2024: A Speech-Based Dialogue System for Training Oral Examinations

Oral exams have several advantages over written exams, including flexibility to meet individual student needs, reduced time pressure, and fairness. They allow students to express knowledge differently, clarify misunderstandings immediately, and make cheating difficult. Oral exams also train students to engage in technical discussions, requiring clear, precise expression and explanation of concepts using correct terminology. However, due to limited practice opportunities, preparing for oral exams can be challenging, and the unfamiliar format may cause anxiety.

To address this, we have proposed a dialogue model that simulates realistic conversations with an examiner to practice the required skills. It aims to generate context-relevant questions covering exam topics, understand and accurately assess student responses, and incorporate these into subsequent questions, ultimately providing constructive feedback on overall performance. The interaction occurs in natural, spoken language. According to research, Dialogue-based Tutoring Systems have been successfully used in educational programs for Socratic dialogues, aiming to deepen knowledge through questioning and investigation. This leads to the research question: How can a conversational exam between students and examiners be modelled and implemented? To answer this question, the investigation focuses on several key aspects. It explores how oral exams can be structured practically, including the methodologies for identifying, selecting, or generating appropriate questions and their corresponding answers.

Additionally, it examines the process of comparing student responses with correct solutions to evaluate their performance. Finally, it considers how constructive feedback can be generated based on the analysis of an exam conversation. To implement the dialogue system, an architecture based on various components must be defined. The concept involves integrating and using pre-trained language models and providing educational materials as data for the system. Validating and critically assessing the system requires suitable metrics and evaluation techniques, which pose a challenge and must be tailored to the specific system.

Citatuion:
Niels Seidel and Luna Hammesfahr. 2024. A Speech-Based Dialogue System for Training Oral Examinations. In Technology Enhanced Learning for Inclusive and Equitable Quality Education: 19th European Conference on Technology Enhanced Learning, EC-TEL 2024, Krems, Austria, September 16–20, 2024, Proceedings, Part II. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 254–259. https://doi.org/10.1007/978-3-031-72312-4_36

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Anleihen der Bauhaus-Pädagogik für die Lehre in der Informatik

Das Bauhaus steht bis heute als Symbol für Innovation, interdisziplinäres Arbeiten und praxisnahe Bildung. Die Methoden, die Walter Gropius und Hannes Meyer in den 1920er Jahren etablierten, könnten Impulse für die heutige universitäre Lehre geben – insbesondere in der Informatik. Ähnlich wie in der Architektur werden hier Artefakte gestaltet, die technische und soziale Anforderungen erfüllen müssen. Die Gründung des Bauhauses jährte sich 2019 zum 100. mal. Aus diesem Anlass hatte ich mir einige Bücher besorgt und Bauten von Bauhausarchitekten in Hagen, Bonn und Löbau angesehen. Ich wollte wissen, wie am Bauhaus gelehrt und gelernt wurde und fragte mich, wie diese Ansätze auf die heutige universitäre Lehre in der Informatik übertragen werden können.

Praxisorientiertes Lernen

Am Bauhaus war der Unterricht eng mit der Praxis verknüpft. Studierende begleiteten reale Bauprojekte von der Konzeption bis zur Fertigstellung, wie Meyer betonte: Richtiger Unterricht über Gestaltung ist nur im Zusammenhang mit der Praxis am Bau durchführbar (Oswalt, 2021, S. 145). Projekte wurden im internen Wettbewerb ausgeschrieben, und Studierende arbeiteten entweder im Rahmen von Praktika, Arbeitsverträgen oder Anstellungen in Meyers Architekturbüro an deren Umsetzung (Oswalt, 2021, S. 131–133). Älteren Semester wurde dabei auch die Bauleitung und Projrktleitung übertragen. Diese konsequente Orientierung an realen Aufgabenstellungen förderte nicht nur technische Fähigkeiten, sondern auch Eigenverantwortung und die finanzielle Unabhängigkeit der Lernenden (Oswalt, 2021, S. 141).

Für die Informatik könnte dies bedeuten, Studierende stärker in die Entwicklung realer Softwareprojekte einzubinden. Ähnlich wie am Bauhaus könnten Projektideen in internen Ausschreibungen präsentiert und in Gruppen umgesetzt werden. Solche Projekte könnten sich auf die Entwicklung von Anwendungen konzentrieren, die gesellschaftlichen Mehrwert bieten, etwa im Bereich nachhaltiger, inklusiver oder quelloffener Softwareentwicklung.

Vertikalen Brigaden: Lernen in Gruppen

Am Bauhaus arbeiteten Studierende in Gruppen, die je nach Interessengebiet zusammengestellt wurden. Diese Gruppen analysierten Beispiele, führten Vergleiche durch und präsentierten ihre Ergebnisse (Oswalt, 2021, S. 140). Besonders hervorzuheben sind die sogenannten „vertikalen Brigaden“, in denen Studierende unterschiedlichen Alters, Semesters und unterschiedlicher Spezialisierung (z.B. Weberei, …) gemeinsam lernten. Diese Zusammenarbeit förderte den Wissensaustausch und die Eigenverantwortung der Studierenden.

In der Informatik könnte ein ähnliches Konzept umgesetzt werden, indem Projektteams aus Bachelor-, Master- und Promotionsstudierenden gebildet werden. Diese alters- und erfahrungsübergreifenden Teams könnten nicht nur technische, sondern auch soziale Kompetenzen stärken. Die klare Anleitung durch Dozierende würde den Einstieg erleichtern.

Werkstattprinzip als didaktischer Ansatz

Das Bauhaus sah die Werkstatt nicht nur als physischen Ort, sondern als pädagogisches Prinzip: ein Raum für experimentelles, selbstgesteuertes und zielorientiertes Lernen. Meyer und Gropius verstanden Architektur – und damit auch den Lernprozess – als „Gestaltung von Lebensvorgängen“ (Oswalt, 2021, S. 140).

In der Informatik könnten Labore und virtuelle Arbeitsumgebungen als moderne Werkstätten dienen. Hier könnten Studierende frei experimentieren, Prototypen entwickeln und ihre Ergebnisse kontinuierlich reflektieren und verbessern. Lehrende würden dabei weniger als Wissensvermittler, sondern vielmehr als Berater agieren, die den Lernprozess begleiten und unterstützen.

Fokus auf den Menschen

Ein zentrales Anliegen der Bauhaus-Pädagogik war die Gestaltung für den Menschen. Dieser Ansatz betonte nicht nur ästhetische und funktionale Aspekte, sondern auch die soziale Verantwortung des Designs. Informatikprojekte könnten in ähnlicher Weise darauf abzielen, die gesellschaftliche Relevanz der entwickelten Artefakte zu berücksichtigen. Dies könnte durch Projekte realisiert werden, die beispielsweise Barrierefreiheit, Usability, User Experience, oder soziale Inklusion adressieren.

Fazit: Inspiration für die Informatik-Lehre

Die Bauhaus-Pädagogik bietet wertvolle Anregungen für die universitäre Lehre in der Informatik. Die Verbindung von Theorie und Praxis, die Förderung von Eigenverantwortung und Gruppenarbeit sowie das Werkstattprinzip könnten helfen, Studierende besser auf die komplexen Anforderungen der Berufswelt vorzubereiten.

Insbesondere die praxisorientierte Ausrichtung des Bauhauses könnte die Informatik-Lehre bereichern, indem sie Studierende ermutigt, innovative und gesellschaftlich relevante Lösungen zu entwickeln – ganz im Sinne der Bauhaus-Maxime, Kunst, Technik und Gesellschaft miteinander zu verbinden.

Quellen

re:publica 2024: Reversed Big Brother Principle for Learning Analytics

Am 29 Mai hielt ich einen Vortrag bei der re:publica 2024 in Berlin. Ich habe ja schon an einigen seltsamen Orten wie Kirchen, Schlössern, Punk-Clubs und Friedhöfen Vorträge halten dürfen, aber eine Freilichtbühne vor dutzenden Liegestühlen war noch nicht dabei. Bei leichtem Sonnenschein wirkte das Publikum dann auch entsprechend entspannt.

Das Thema des Vortrags war bewusst provokativ gewählt. Mit dem Reversed Big Brother Principle wollte ich ein Konzept zur Diskussion stellen, was mir vor über 20 Jahren bei der Arbeit im AK Vorrat zum ersten Mal begegnet ist. Es beschreibt einen Weg, staatliche Überwachung gegenüber den betroffenen Bürgern transparent zu machen. In Estland wird dieses Prinzip zur Anwendung gebracht, indem behördliche Zugriffe auf Daten von Bürgern in einem Verzeichnis aufgelistet sind. Eine Bürgerin kann dort beispielsweise einsehen, wann welche Steuerbehörde oder Polizeidienststelle welche Daten von ihr abgerufen hat. Durch den Einsatz von Monitoring-Instrumente im Kontext von der universitären Lehre können wir freilich nicht von einem Big Brother sprechen, da Lehrende teilweise nur durch die Hilfe von Learning-Analytics-Instrumente in die Lage versetzt werden, die Lernprozesse und -ergebnisse von größeren Studierendengruppen zu beobachten und ggf. darauf zu reagieren. Sofern diese Instrumente zum Einsatz kommen, wissen Studierende auch, welche Daten von ihnen erfasst und den Lehrenden zusammengefasst angezeigt werden. Es ist jedoch gerade in Forschungskontexten den betroffenen Studierenden nicht immer klar, welche der vielen erhobenen Daten überhaupt durch Lehrpersonen verwendet werden und welche nicht. Studierende haben mir diese Frage schon einige Male gestellt und damit indirekt angedeutet, dass sie nicht so recht wissen, was die Lehrperson in einem Onlinekurs macht und nicht macht. Lehrpersonen sind in (asynchronen) Onlinekursen nämlich kaum sichtbar. Studierende sehen nicht, wenn Lehrende ihr Teacher Dashboard benutzen. Sie sehen die Lehrpersonen aber auch nicht, wenn sie Kursmaterialien ändern, den Kursraum betreten, an den Aufgabenkorrekturen arbeiten oder in irgendeinem Kursforum einen Betrag hinterlassen haben. Das Reversed Big Brother Principle in Learning Analytics richtet sich also darauf, die Lehraktivitäten von Lehrpersonen gegenüber Studierenden sichtbar zu machen.

In dem Vortrag habe ich vorläufige Ergebnisse einer Befragung von 372 Studierenden und 69 Lehrenden vorgestellt, in der sie darlegen, welche Lehraktivitäten sie gern sehen möchten bzw. gegenüber Studierenden preisgeben möchten. Überraschenderweise liegen die Zustimmungswerte zwischen Studierenden und Lehrenden nah beisammen. Lehrende sind also durchaus bereit im Sinne der Reziprozität ihr Lehrverhalten tracken zu lassen, sodass es Studierenden in einem Teaching Dashboard auf einem Blick einsehen können. Für die Forschung im Bereich Learning Analytics ergibt sich damit ein neues Forschungsfeld, in dem grundsätzlich auch Methoden der Visualisierung, Selbstregulationsunterstützung und Vorhersagen zum Einsatz kommen können. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass es hierbei nicht um die Leistungsbewertung Lehrenden geht und auch ein Vergleich von Lehrenden ausgeschlossen wird.

Die vollständigen Ergebnisse dieser Untersuchung werden im Laufe des Junis als Preprint veröffentlicht.

Zeig mir wo ich nicht gendergerecht schreibe!

Ich freue mich, dass Theodor Diesner-Mayer seine Bachelorarbeit nun auf deposit_hagen, unserem Open Access Server, veröffentlichen konnte. In der Bachelorarbeit berichtet er von Analysewerkzeug zur Identifikation von generischen Maskulinformen inkl. Koreferenzanalyse und einen Editor, der Korrekturvorschläge im Sinne des gendergerechten Schreibens unterbreitet.

https://doi.org/10.18445/20220301-175739-0

Aus der Bachelorarbeit möchten wir nun einen Beitrag für die Mensch und Computer schreiben.

Workshop Learning Analytics 2021

Im Rahmen der DELFI veranstalte ich zusammen mit Clara Schumacher und Nathalie Rzepka in diesem Jahr den Workshop Learning Analytics. Der Workshop findet seit 2017 jährlich statt und steht diesmal unter dem Motto “Learning analytics considering student diversity with regard to assessment data and discrimination“.

Termin: 13. September 2021 – online via WebEx (Link wird noch bekannt gegeben)

Neben vier Lang und zwei Kurzbeiträgen freuen wir uns Ryan Baker in einer Keynote begrüßen zu dürfen.

Die Teilnahme ist kostenlos und kann ohne Registrierung oder Anmeldung erfolgen.