Der Braune Hirsch aus Lübeck*

Die Kontroverse über den Lübecker Unternehmer und Professor Winfried Stöcker ist im vollem Gange. Nachdem Stöcker in seinem Görlitzer Jugendstilkaufhaus ein Benefizkonzert zugunsten von Flüchtlingen untersagt hatte, katapultierte er sich in einem Interview mit der Sächsischen Zeitung ins rechte Abseits. Ich zitiere:

  • “Mir sind aber so viele ausländische Flüchtlinge nicht willkommen.”
  • Über die Flüchtlinge aus Afrika: “Die reisefreudigen Afrikaner sollen sich dafür einsetzen, dass der Lebensstandard in ihrem Afrika gehoben wird, anstelle bei uns betteln zu gehen.”
  • “Vor zwanzig Jahren haben sich in Ruanda die Neger millionenfach abgeschlachtet.”
  • “Aber sie [die Türken] haben nach meiner Auffassung kein Recht, sich in Deutschland festzusetzen und darauf hinzuarbeiten, uns zu verdrängen, darauf läuft es hinaus, wenn nicht gegengesteuert wird!”
  • “Viele Türken kommen auf einer Einbahnstraße in unser Land, indem die Eltern ihre Kinder ganz gezielt in Richtung Deutschland verheiraten, es heiratet niemand in die andere Richtung.”

Der MDR gab Stöcker nun die Gelegenheit seine Worte ins richtige Licht zu rücken. Dabei milderte er seine Wortwahl, argumentierte jedoch weiter gegen Zuwanderung und sogar gegen das Weihnachtsfest. Dies gefiel den Görlitzern überhaupt nicht. Der OB Deinige kritisierte Stöcker heftig. Der Förderverein des Kaufhauses am Demianiplatz löste sich kurzerhand auf. Einige Empfänger von Stöckers Geldgeschenken, gaben das Geld zurück.

Die Görlitzer haben damit Mut bewiesen, ihre Werte nicht für das Geld eines Investors zu verkaufen. Doch am finanziellen Tropf des Mäzens hängt nicht nur Görlitz. Viele weitere Kommunen sowie soziale und kulturelle Einrichtungen listen Stöcker als Sponsor und Unterstützer. So ist Winfried Stöcker beispielsweise ein privater Mäzen der Bayreuther Festspiele, des Lübecker Theaters und der Semperoper bzw. der Dresdner Staatskapelle. Auch die Diakonie-Sozialwerk Lausitz und ** das Herrnhuter Hospiz unterstützt er privat oder im Namen seiner Firma. Wahrscheinlich fördert er noch dutzende andere Einrichtungen. Es lässt sich nicht recherchieren, denn er prahlt damit nicht. Im Besonderen wirkt Stöcker in der Gegend von Bernstadt und Herrnhut. In Herrnhuts Ortsteil Rennersdorf unterhält Stöcker einen Standort von Euroimmun. In Bernstadt ist er aufgewachsen, dort betreibt er u.a. einen Kindergarten, ein Kulturzentrum (Kiesdorf) und das Traditionshotel “Brauner Hirsch”.

Die Frage ist nun, welche dieser Einrichtungen und Kommunen den Mut aufbringen, sich gegen Stöckers fremdenfeindliche und rassistische Meinung zu stellen. Vor allem die Stadt Herrnhut*** mit ihrer christlichen und humanistischen Tradition täte gut daran, ein Zeichen der Nächstenliebe und Toleranz auszusenden. Herrnhut würde ohne Zuwanderung der “reisefreudigen” Glaubsflüchtlinge aus Böhmen und Mähren gar nicht existieren. Bernstadt hat dahingehend keine so starke Tradition und befindet sich in einer ungleich größeren Abhängigkeit von Euroimmun und Stöckers Engagement. Dennoch ist es falsch, sich durch ein Schweigen gegen die nach Bernstadt zugewanderten Menschen und die christliche Tradition des auf klösterlichen Land gegründeten Ortes zu stellen.

** Update: Die Stiftung Diakonie-Sozialwerk Lausitz hat die von W. Söcker erhaltenen Gelder laut Frau Stephanie Giert zurückgegeben und konnte den Ausfall durch andere Spender kompensieren.

*** Update: Eine Anfrage bei der Stadtverwaltung blieb bislang unbeantwortet.

PEGIDA und die Rufe der Überforderten

Medien und Politik können PEGIDA nicht greifen. Es gibt weder einen wahren Anführer, noch Kompetenzstrukturen oder eine gerichtete Kommunikation nach Außen. Alle demonstrieren und kommentieren wie es ihnen beliebt und lassen sich einen Maulkorb verpassen, wenn sie von Medienvertretern direkt angesprochen werden. Das diffuse Rampenlicht bei Facebook und auf den Straßen und Plätzen  fördert dabei radikale und extreme Ansichten zutage – wer am lautesten schreit, findet Beachtung. Inzwischen hat auch der letzte kapiert, dass die Sozialen Netzwerke kaum mehr als verlängerte Stammtische sind.

Zunächst erinnert dieses Chaos jedoch an andere Protestbewegungen. Ohne feste Struktur stellte sich die spanische Protestbewegung Movimiento 15-M der Öffentlichkeit – freilich mit heheren Zielen. Dort rotierten die Sprecher täglich, während intern sehr intensiv debattiert und abgestimmt wurde. Auch die Piratenpartei schockierte die Medien durch eine unkoordinierte Kommunikation auf hunderten Kanälen (Wiki, Blogs, twitter, Mailinglisten). Die angestrebten basisdemokratischen Grundsätze verhinderten selbst Stellungnahmen der intern gewählten Vertreter, welchen die Rolle von Vermittlern und Verwaltern zugesprochen wurde. Die Piraten waren inhaltlich ähnlich homogen und fungierten lange Zeit als Sammelbecken diverser politischer, vor allem linker Strömungen. 15-M und die Piraten sprachen sich jedoch für Innovationen aus. Bei PEGIDA überwiegt eine kulturpessimistische Grundeinstellung, die ich als Kern der Bewegung begreife. Kulturpessimisten glauben an einen ständigen Abstieg von einem guten oder idealen empfundenen Urzustand. Insbesondere der Fortschritt in allen Kulturbereichen wird pessimistisch gesehen. Dabei geht es nicht allein um den technischen, sondern insbesondere den damit immer einhergehen gesellschaftlichen Fortschritt. Anhand der folgenden vier Beispiele möchte ich diese Denkweise versuchen zu erklären:

  • Supranationale Demokratie und Staatswesen: Die Komplexität der föderalen und bundesdeutschen Staatsform mit  seinen Gremien, Prozessen und Gesetzen wird durch Einbindung in die EU noch einmal übertroffen. Wie Leopold Korr und Kurt Schumacher schon predigten, wünschen sich nicht wenige ein Europa der (überschaubaren) Regionen. Die Unabhängigkeitsbewegungen in Schottland, Baskenland und Flamen geben Beispiele dafür ab.
  • Pluralistische Gesellschaft: Eine Vielfalt an Kulturen, Sprachen, Religionen, politischen Gesinnungen, Genderisierung und nicht zuletzt an Lebensentwürfen gehört zu unserem Alltag. Wer damit zurecht kommen möchte, benötigt einen differenzierten Überblick über das gesellschaftliche Spektrum und vor allem Empathie für die Andersdenkenden. Die Fähigkeit zur Empathie ist in Anbetracht von Kriegen, Post-Kolonialismus und Umweltzerstörung zentral.
  • Globaler Wettbewerb: Unternehmen sehen sich einem globalen Wettbewerb konfrontiert und agieren ebenso global. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa hat diesen Wettbewerb auch auf dem Arbeitsmarkt übertragen. Voraussetzung für diesen Wettbewerb sind die technischen Mittel zur Kommunikation und Mobilität.
  • Automatisierung/Digitalisierung: Die Automatisierung in der Produktion und die Digitalisierung im Dienstleistungssektor fordert Arbeitsplätze von weniger qualifiziertem Personal. Die Verdrängung des Menschen durch Maschinen verlangt den Betroffenen die Fähigkeit zur Beherrschung Maschinen ab. Nicht jeder ist dazu im Stande. Wer Technologie nicht beherrscht, wird von ihr mitbeherrscht (z.B. NSA, Datenschutz im Social Web, Fahrzeugnavigation, ect.). Problematisch ist dabei insbesondere die Geschwindigkeit der Vorgänge, namentlich die kurzen Innovations- und Produktzyklen, aber auch rasanten Abläufe wie im elektronischen Börsenhandel (vgl. Paul Virillo).

Die Überforderung mit dem wirtschaftlichen, technologischen und organisatorischen wie auch dem gesellschaftlichen Fortschritt wälzt PEGIDA insbesondere auf Asylbewerber ab. Asylsuchende sind in unserer Gesellschaft am schlechtesten gestellt. Sie werden schlecht finanziert, besitzen kaum Bewegungsfreiheit, haben kein Recht auf Arbeit und sind von der  demokratischen Teilhabe ausgeschlossen. Und sie sind in der Minderheit. Sie können sich zahlenmäßig ohne unsere Unterstützung nicht (politisch) wehren. Die eingangs genannten vier kulturpessimistischen Perspektiven finden sich mehr oder weniger versteckt in den Kommentaren und auf den Transparenten von PEGIDA wieder: Europa soll die Einwanderungspolitik neu regeln; die ethnische Herkunft soll im Strafrecht berücksichtigt werden; usw.

Ich denke es ist wichtig diesen Ausdruck von Überforderung ernst zu nehmen und von den Parolen zu abstrahieren. Es gibt in Deutschland bisweilen keine Partei, die sich gegen den Fortschritt stellt. Nicht einmal die Wachstumskritiker stellen sich gegen soziale oder technische Innovationen. Dies wäre auch eine unpassende Antwort die bestehenden Probleme weltweit (z.B. Millennium Entwicklungsziele, Kyoto-Ziele, ect.).

Die Glorifizierung des Gestrigen (Ostalgie/DDR) und das typisch deutsche “früher war alles besser” kocht übrigens nicht zum ersten mal hoch. Bereits Hitler knüpfte argumentativ an die Zeit vor dem 1. Weltkrieg an und schon während der Weberaufstände im 18. und 19. Jahrhundert gaben die arbeitslos gewordenen Weber den Maschinen und Fabrikanten die Schuld an ihrer (nicht unbedingt selbstverschuldeten) Misere. Es gibt sicher treffendere Beispiele aus der Geschichte, von denen wir hier in Dresden und Sachsen lernen können, wie ein überfordertes Volk zu einem bürgerlich liberaleren Kurs finden kann.