Der Pfad der toten Tiere

Hätte ich meinen Rückflug etwas später gebucht oder weniger Zeit im Dschungel verlebt, wäre ich ganz sicher den 10-15-tägigen Huayhuash-Treck gelaufen, doch diesmal reichte es nur für den kleinen Bruder, den Santa Cruz Treck. Das ich dem 4-Tage-Treck später diesen schrecklichen Beinamen geben würde, hätte ich nicht gedacht und ganz sicher auch nicht unterstützt.

Die Fahrt zum gewählten Anfang des Weges (man kann ihn auch andersherum laufen)

In Huaraz versuchte ich zunächst andere Touristen für diesen Treck zu gewinnen, um die Kosten für einen Guide zu sparen. Außerhalb der Saison schien dies jedoch ein Ding der Unmöglichkeit und so ließ ich mich auf ein Angebot meines Hostels/Hotels ein, in Folge dessen ich mir zusammen mit vier anderen Leuten einen Bergführer plus Eseltreiber und ausreichend Packesel/Pferde teilte. Da ich ohnehin die letzten vier Wochen mit einem 13kg schweren Tagesrucksack unterwegs war, verzichtete ich darauf, dem Esel mein quasi Handgepäck aufzubürden. Dennoch ertrugen die zwei Pferde und der Esel unsere Zelte, das Proviant und die Rucksäcke meiner Begleiter.


“Caramelo” scheint das erst spanische Wort eines, ansonsten queschua-sprechenden Kindes in den Bergen zu sein.

Während der ersten frostigen Nacht bot mir mein Schlafsack nicht mehr den Komfort, der mir zum Schlafen genügt hätte. Vielleicht lag es auch an der zu dünnen Isomatte, die mir Willer gegeben hatte. Jedenfalls fröstelten wir alle ein wenig und wollten schnellstmöglich ins Sonnenlicht. Willer schickte uns schon mal allein los. Er wollte warten, ob der Eseltreiber den davongelaufenen Esel finden kann. Die Esel werden in der Regel nur vor dem Treck richtig gefüttert und müssen sich in den Bergen von dem ernähren, was andere Huftiere vor ihnen stehen gelassen haben. So dumm, wie die Esel in Fabeln oft erscheinen, schien der unsrige nicht gewesen zu sein, denn schließlich flüchtete er dahin, wo es futter gab: ins Dorf.


Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen nach der kalten Nacht.


Kein Cow-Boy, ein Donkey-Boy läuft da.

Er tauchte auch nicht wieder auf, so dass die beiden Pferde allein mit der Last fertig werden mussten. 80kg würden die vergleichsweise kleinen Hopperle tragen können, doch unsere Treiber tauschte sie gegen zwei andere Esel ein, die mit den Umweltbedingungen besser zurecht kommen würden. Das dem so ist, sah wir an dem verendeten Tier nahe eines Bergsees.


Getrübte Schönheit: ein verendeter Esel kurz vor dem Pass.


Malerische Spiegelung.

Wir bewegten uns indes schon im Zeitlupentempo auf den 4750m hohen Pass zu. Ich fand meinen Rhythmus und versuchte ihn zu halten. Auf den letzten 30 Metern schien alle Erschöpfung verflogen. Das Ziel vor Augen, legte ich unbewusst einen Zahn zu und wollte, nach erreichen des Passes, noch höher hinaus auf den Kamm Richtung Gletscher. Das mächtige Massiv hatte zwar eine unheimliche Anziehungskraft, doch blieb es mir gleichermaßen zum Greifen nah und unerreichbar.


Der Kamm.

Beim nächsten mal möchte ich das Eisklettern erlernen, anstatt ständig an den Gipfeln vorbeilaufen zu müssen. Falls ich dies hier in der Cordillera Blanca lernen möchte, sollte ich dies innerhalb der nächsten 12 Jahre tun, so lange die Gletscher und Schneekappen der Gipfel noch nicht geschmolzen sind. Die Klimaerwärmung begegnet einem also auch hier. Kürzlich schnallte sich Willer seine 3-Jährige Tochter auf den Rücken und nahm sie mit zum Eisklettern auf einen 5200er. Die Menschen in den Bergen sind ganz gewiss auch einem etwas anderen Holz. Er hat nun während seiner 8-Jährigen Arbeit als Bergführer schon zwölf der zweiunddreißig 6000er in der Cordillera Blanca und in der Cordillera Huayhuash bestiegen. Im letztgenannten Gebirgszug sind übrigens ettliche 6000er noch nie bestiegen worden.


Alles Kleinigkeiten: Willer, unsere Bergführer.

Bei einem kurzen Nickerchen hatte die Sonne Gelegenheit meine durchschwitzten Sachen zu trocknen. Der Abstiegt glich einem Spaziergang, wenngleich mir aufkommende Kopfschmerzen zunehmend zu schaffen machten. Ein Schirmmütze bietet eben nicht ausreichend Schutz für den Hinterkopf, so dass ich im Zeltlager schlussendlich von einen Sonnenstich ausgehen musste, denn an die Höhe hatte ich mich bestens gewöhnt. Eine längst verfallene Parazetamol sorgte für einen halbwegs klaren Kopf beim Abendessen.

Willer kochte hervorragend und vor allem sehr viel. Attraktion des Abends war ein besonders großer Kondor, welcher eines Esel- und Pferdekadavers wegen, in unsere Nähe kam. Das sich das tote Getier nicht gut auf die Wasserqualität des nahen Baches auswirken mochte, schien uns klar, doch hielt es uns nicht davon ab im Bach zu baden und unsere Wasserfalschen (unter Beigabe von …) aufzufüllen.

Der nächste Tag verlief abgesehen vom Besuch des Apumayo-Basiscamp (“Der schönste Berg der Welt”), recht unspektakulär, wenn auch die Landschaft deswegen nicht weniger schön war. Wir liefen durch ein breites und flaches Tal.


Irgendwann habe ich aufgehört die Pferde- und Eselskelette zu zählen.

Unser Eseltreiber sagte mir, dass die Tiere hier nicht älter als 13 Jahre werde würden. Anstatt schwerer Lasten haben Esel in guter Haltung nicht selten 40 Jahre auf dem Buckel. Einer unser beiden Lastentiere hatte sein 12. Lebensjahr schon begonnen und freute sich, ebenso wie sein Leidensgenosse, über Kekse und Äpfel.


Un Picaflor – auf deutsch Blütenpicker oder besser: Kolibri.

Kakteen und andere dornige oder dickblättrige Gewächse bestimmten mehr und mehr die Vegetation in tieferen Lagen. Die unter Reisenden wahrscheinlich bekannteste Kakteenart ist sicher der San Pedro Kaktus (echinopsis pachanoi) wegen seines Mescalin-Gehalts. Wir zelteten an einem Bachlauf, der sich zum Baden anbot, und genossen den letzten Abend inmitten der Berge.


Obwohl ein Fluss, ein Berg und der von uns gelaufene Weg den Namen Santa Cruz (Heiliges Kreuz) trägt, bekommt dieses Kreuz unfreiwillig eine zweite Bedeutung.
Wer beabsichtigt, diesen Weg zu laufen und auf Lastentiere nicht verzichten möchte, solle darauf bestehen, dass der Eseltreiber mehr als 16$ ausgehändigt bekommt, um die Tiere angemessen zu versorgen. Die Treiber nach dem Treck zu nochmals zu entlohnen bringt den Tier nichts, da sie für gewöhnlich volltrunken den Rückmarsch antreten und sich nicht mehr um die Tiere kümmern. Des weiteren empfiehlt es sich ein Lasttier pro Person dabei zu haben. Im übrigen tut man nicht schlecht daran, den Touranbieter danach zu fragen, wo die Eseltreiber untergebracht werden. Die meisten von ihnen schlafen nämlich ohne Schlafsack, mit einer Decke in Höhlen.

Laguna 69

Nach einem kurzen Stelldichein in Lima fuhr ich eines Samstags direkt nach Huaraz, dem wahrscheinlich komfortabelsten Ausgangspunkt für Wanderungen in der peruanischen Schweiz, wie das Gebirge (scherzhaft?) bezeichnet wird. Das Busunternehmen meiner Wahl war abermals Cruz del Sur. Ich erwähne dies nicht des hohen Sicherheitsstandard wegen, sondern weil ich ausgerechnet bei meinem letzten Trip das Glück hatte, als Gewinner des Bingo-Spiels hervozugehen und somit das Ticket für die Rückreise geschenkt bekam. Ideal – erst recht, weil es das erste mal sein sollte, dass ich den selben Weg zurück fahren wollte, den ich gekommen war. Neben mir saß Annie, ihr fehlte auch nur eine Ziffer zum BINGO. Genau wie ich, war sie so schon mehre Monate mit Peru und den Peruanern beschäftigt, so dass wir uns eine Menge witzige Anekdoten zu erzählen hatten. Zum erstenmal sprach ich mit jemanden aus einem (teils) englischsprachigen Land ausschließlich spanisch. Annie kam zwar aus dem französischsprachigen Teil Kanadas, hatte jedoch trotz ihrer Anstellung als Englischlehrerin, von ihrer Sprache abgelassen. Wir trafen uns abends zum Essen und auf ein paar Biere plus einer Flasche Pisco; verdünnt mit Sprite. Die legendäre Hit-Band ‘Grupo 5’ schallte im Club und erweckte schlafende Ohrwürmer zum Tanzen. Annie kauft sich gleich am nächsten Tag die Mega-Grupo-5-CD mit schlappen 168 Songs.

Eine verarmte Greisin, die hier in der Markthalle von Huaraz um etwas Essen fleht.

Ein katholische Sonntagsprozession, die sich allerdings erst in Bewegung setzte, als alle männlichen Teilnehmer, einschließlich Kreuzträger, sturztrunken waren.

Abgesehen davon war es die Alpaca-Strickware, die Annie zur Reise in die Berge bewegt hatte. Statt der Wolle suchte ich nach Verausgabung körperlicherseits. Der Genuss dessen erfordert jedoch immer ein paar Tage der Aklimatisierung, denn Huaraz liegt auf guten 3000 Metern Höhe und ist durch nächtliche Kälte und extreme UV-Strahlung kein Ponyhof. Den ersten Tag verbrachten wir deshalb in der Kneipe (dies wirkt der Gewöhnung entgegen), den zweiten wollte ich schon mal einen Aufstieg wagen. Die Lagune mit dem klangvollen Namen 69 erkor ich zum Ziel meiner ersten Wanderung in der Cordillera Blanca. Der Alpenvereinein verpasste diesem entlegenen Gletschersee kurzer Hand eine Nummer, anstatt die kompliziert auszusprechenden landessprachlichen Bezeichnung zu verwenden. Ein guter Name wirkt sich entscheidend auf den Anklang bei Touristen aus. So kam es, dass drei stramme irische Mädels in meinem Hostel (Churup) ebenfalls den See Nr. 69 anstrebten. In aller Frühe fuhren wir mit Colectivo und Taxi etwa drei Kilometer ins Innere des Nationalparks. Zunächst wanderten wir gemeinsam entlang eines kleinen Flusses, an den darauffolgenden leichten Anstiegen lief ich einvernehmlich, stetigen Schrittes vorweg. Nach insgesamt zwei Stunden lag ein kleinerer Bergsee, ein Hochplateau und atemraubende Zick-Zack-Steigungen hinter mir.

Das Plateau mit Kühen und grauen Vögeln.

Die 4000m-Marke hatte ich um gut 200 Meter überschritten und stand vor einem gewaltigen Gletschermassiv, an dessen Fuß sich die ersehnte Lagune befand. Je nach Blickwinkel, Lichtverhältnis und Wetter wechselt sie die Farben von hellgrau über grüngrau und türkisschwarz bis hin zu dem, was die Farblehre als Coboltblau definiert. Nicht ohne Grund, denn am Boden des Sees befinden sich neben weißem Granit auch erhebliche Cobaltvorkommen.

Ich grüßte die schwarz-weisse Ente (Blesshuhn?) auf dem Teich, schoß einige Fotos und rannte zurück. Beim Rennen bergab beansprucht man seine Knie am wenigsten und bekommt leichte Adrenalinkicks, wie beim Downhill mit dem Mountainbike.

Ready to run down?

Die Landschaft erinnerte mich irgendwie ans Retezat-Gebirge in den rumänischen Südkarpaten. Mir begegneten viele Israelis, die angesichts der fortgeschrittenen Stunde und ihrer Kondition kaum noch eine Chance haben sollten, den Gletschersee vor dem Mittag zu erreichen, um anschliessend mit dem letzten Taxi in die Stadt zu gelangen. Die Girls von der Grünen Insel hatten in Anbetracht dessen auch schon beim ersten Bergsee resigniert und den Rückmarch angetreten. Ich holte sie ein, so dass wir sogar noch viertel vor zwölf bei den schlafenden Taxifahrern anklopften. Diese jedoch waren nicht gewillt, uns vor drei Uhr nach Yungay zu fahren, so dass ich spontan einen vorbeikommenden Lastwagen anhielt. Nach einiger Überzeugungsarbeit und Wehleidsvortäuschung durften wir auf die Ladefläche steigen. Auf über hundert (leider) leeren Bierkästen machten wir es uns mehr oder weniger bequem und genossen die schaukelige Fahrt in dieser Art von Cabriolet. Die Rückfahrt dauerte natürlich länger als mit dem Taxi, doch erfreute wir uns der Aussicht und gaben und mühe jeden Campesino am Wegesrand zu grüßen.

Die drei von der Insel.

Es scheint noch die Ausnahme, dass Iren außerhalb Nordamerikas und Australiens bzw. Neuseelands auf Reisen gehen, entsprechend habe ich mich gefreut ihre quirrlichen Dialekte zu hören.Den Rest des Tages plagte mich ein Kopfschmerz, der wohl aus der heftigen Sonneneinstrahlung resultierte.

Nackt unter Piranhas

Bereits vor dem Tag beim Shamanen weilte ich drei Tage und Nächte im Urwalddorf Puerto Miguel. Die Nacht zuvor hatte ich in einer Disco in Iquitos durchtanzt und entsprechend schläfrig verbrachte ich die vierstündige Bootsfahrt nach Puerto Miguel. Romi – mein Dschungel-Guide – hieß mich mit seiner Freundin und seinem Sohn Romi Junior willkommen.

Romi Junior und sein Vater am Ruder des Bootes

Wir schleppten eine Menge Kisten quer durchs Dorf zu einem anderen Flussarm, auf dem wir ins Camp gelangen sollten. Es war so heiß und schwül, dass ich einem Bad im dunkelbraunen Fluß nicht wiederstehen konnte. Eine halbe heiße Stunde später erreichten wir das relaxte Camp. Drei große Pfahlbauten, von denen nur einem die Moskitohülle fehlte, waren fortan unser Heim. Inzwischen hatten sich noch andere Familienangehörige von Romi’s Freundin eingefunden. Sie kochten und wuschen ihre Sachen. Ich war der einzige Tourist im geräumigen Aufenthalts-, Ess- und Schlafhaus mit den Hängematten. Überflüssigerweise wollte man mir drei Malzeiten täglich servieren, die mich angesichts der Wärme noch mehr gelähmt hätten. Ein wenig Obst reicht vollkommen aus, sagte ich. In der angenehmen Nachmittagssonne unternahmen wir eine erste Wanderung in den umgebenden Wald, weitere Touren sollten folgen. Wenngleich ich nicht vermag, dieses Dickicht mit Worten zu beschreiben, sei nur so viel gesagt, dass mich ein ähnliches Gefühl überkam, als wenn ich in heimischen (wenig berührten) Wäldern unterwegs bin. Romi zeigte mir eine Reihe von Pflanzen und Tierchen:

Ein Baum namens Ficus, dessen Stamm sich drei Meter über dem Boden aus einer Vielzahl von Arcadenbögen zu einem Geflecht vereinigt. Victoria Rechia – die Pflanze mit den größten Blättern. Riesige Isula-Ameisen, derer sieben Bisse das Herz eines Menschen zum Stillstand bringen. Fast allgegenwärtig, die Möbelpacker unter den Ameisen, die im Verhältnis zu ihrer eigenen Körperabmessungen doppelt so große Blätter wie Sonnensegel transportieren. Interessanterweise sehen einige dieser Ameisenvölker eine Schlange als ihre Königing an und versorgen diese mit Nahrung. Auf einer Ameisenstraße zählte ich einmal sieben verschiedenen Arten, die sich ähnlich wie im peruanischen Straßenverkehr, schier ohne Ordnung und dennoch fliessend in beiderlei Richtungen fortbewegten. In den Früchten der hölzernen (geschlossenen!) Chapacha-Frucht fand ich jene Maden wieder, die ich tags zuvor auf dem Markt in Iquitos vom Grillspieß gegessen hatte. Sie eignen sich abgesehen davon ausgezeichnet als Köder beim Angeln, meinte Romi. An einigen Lianen konnten man sich als Tarzan versuchen, an anderen seine Wasserflasche auffüllen ohne chemische Reinigungsmittel bemischen zu müssen. Dann waren da noch Affen, die man mit etwas Übung in der Ferne erblicken und hören konnte:

  • Schwarze Kapuziner Affen (cebus capuchino nigritus)
  • Braune Kapuziner Affen (cebus capuchino olivaceus)
  • Ein einzelgängerischer (ramura) Kapuziner Affe (cebus capuchino ramura)
  • Rückenstreifen-Kapuziner (cebus libidinosus)
  • Totenkopfäffchen (mono titi), die Menschen auf 100m gegen den Wind riechen und hören

Natürlich sahen wir auch eine Menge Vögel, wie zum Beispiel den Martin Pescador (Amazonasfischer), den sogenannten Prehistorico (ein, dem Urvogel ähnliches Federvieh), nach Termiten suchende Spechte und einen hellbraunen Falken namens Oportunista, der anderen Vögeln den Fisch aus dem Schnabel klaut. Abgesehen von den Schwärmen der possierlich grünen Loros, sah ich leider keine weiteren Papageien.Wie schon mit dem Shamanen, ging ich auch mit Romi ein weiteres mal zum Fischen. Wenngleich mir zahlreiche Fische am Haken hängen blieben, so waren sie doch nicht sonderlich groß. Zwei Cichla (Tucunari), ein kleiner Foxfish, sowie weisse, graue und rosa Piranha, die übrigens nicht besonders delikat schmecken, landeten später in der Pfanne.

Cichla, ein grauer, ein rosa und ein weißer Piranha

Während der Regenzeit, wenn die Piranhas ihre Eier in sich tragen, reicht es die Hand knapp über die Wasseroberfläche zu halten, um gebissen zu werden. Derzeit sei es ungefährlich, versichert mir Romi, doch unlängst knusperten die Piranhas hier einem Argentinier die Brustwarze ab. Prima dachte ich und beschloss fortan das Bad und die damit verbundene Körperreinigung im Fluss zu unterlassen. In den vergangen Tagen hatte ich mich schon gewundert, was mich beim Delphin-Schwimmen immer an den Füßen berührt. Dabei ist Bewegung im Wasser die beste Möglichkeit Piranhas anzulocken – nicht nur beim Angeln.

Ursprünglich waren die Bauten rund, doch die Spanier inspierierten die Indios zur Rechteckbauweise.

In ganz Peru feierte man die Woche des Waldes (Semana Bosque) und kürte deswegen auch eine Miss Bosque, als quasi eine Schönheitskönigin oder Primavera (je Altersklasse), wie man hier sagt. Bereits in Iquitos bediente mich eine der dortigen Primaveras in einem Pizzarestaurant (ich mag kein peruanisches Essen mehr), eines Küsschens wegen. Die Dorfgemeinschaft von Puerto Miguel wollte an diesem Abend ihre Primavera präsentieren und gebührend feiern. Ganz selbstverständlich sollte ich daran teilhaben und zudem als erster mit ihr tanzen. Oh Jott, welch grausiges Gringo-Privileg für einen, dem die hiesigen Tanzrhythmen immer noch fremd sind. Fast das ganze Dorf hatte sich unter dem Dach der (Freiluft-)Schule versammelt. Die Leute hier sind es eigentlich gewohnt, aus Mangel an elektrischem Licht, gegen sieben Uhr abends schlafen zu gehen, deshalb verwunderte es nicht, dass die meisten Kinder und einige Erwachsene während des Show-Programms auf den Schulbänken einschliefen. Der Dialekt der des Show-Masters und die maßlos übersteuerte PA machten es mir unmöglich auch nur ein Wort zu verstehen.

Die Dorfband, derzeit noch ohne echte Instrumente, spielte modernen LatinoPop.

Traditionelle Musik hören die Leute lediglich zu den Feierlichkeiten anlässlich des Dorfjubileums. Nachdem eine amüsante Karaoke-Band auf ihren Instrumentimitationen in die Tasten und Saiten gehauen hatte, besuchte ich die einzigen beiden Dorfkneipen – gleich auf der anderen Seite der Schlammpfütze auf dem Dorfplatz. Die Leute dort schauten Fussball und lauschten der Musik einer coolen lokalen Band namens Solido 2000 de Tarapoto. Ein Bier kühlte meinen Kopf von innen. Schließlich kam die Dorfdisco in die Gänge und ich erfüllte meine Pflicht gegenüber der doch ganz sympathischen Miss Primavera. Vielleicht schafft sie es ja zur Miss Peru. Es war üblich nach jedem Lied den Tanzpartner zu wechseln; und so tat ich es. Die Rhythmen waren dann doch nicht so schlecht, oder sollte das an der Rum-Cola-Mischung gelegen haben, die man mir fortlaufend ins Glas füllte? Diese bewegende Partynacht schien sich bis in die Morgenstunden zu erstrecken. Klein Romi, er war gerade mal drei Jahre alt. Sprang auch noch rum. Ich zeigte ihm, wie er die Thron-Stühle der Primaveras ihrem Ursprünglichen Zweck zuführen konnte. Es waren Cajons, also jene Holzkisten mit Loch, die im Stande sind ein ganzes Schlagzeug zu ersetzen. Binnen weniger Minuten kann man lernen, auf einem Cajon zu spielen. Auch Romi Junior hat das sofort hinbekommen. Die Nacht verbrachte ich abermals in der entlegenen Hütte des Shamanens, der bis fünf Uhr, immer noch stark trunken, das Tanzbein schwang.


Traditionell ernärten sich die Menschen hier von Yuca, Bananen, Fisch und verschiedenen Früchten. Seit nun mehr als 30-60 Jahren hat der Reis die Yuca und (Koch-)Bananen weitestgehend verdrängt. Als Konsequenz dessen mussten Urwaldflächen abgeholzt werden, um Reis anzubauen. Reis mit dem Schiff nach Puerto Miguel bzw. Iquitos zu transportieren verteuert den Preis pro Sack um 20 Soles – zu viel für die Menschen in den Dörfern.

Der Wind trennt die Schalen vom Reiskorn. Vorher hat er den Reis gestampft.

Not macht erfinderisch und eine aufgeblasene Plastiktüte zum Volleyball. In der Regel ist es der Sport der Mädchen, Jungen bevorzugen Fußball.

Alles in allem war ich froh in mal eine Zeit in einem solchen Dorf gelebt zu haben. Es war von vornherei nicht mein Ziel einen möglichst ursprünglich lebenden Indianerstamm aufzusuchen, da sich diese ohnehin in unzugängliches Terrain zurrückgezogen haben und zweitens durch meinen Einfluss nicht so werden müssen, wie wir schon sind. Werner Herzogs Kurzfilmbeitrag in Ten Minutes Older: “The Trumpet” beschrreibt die Problematik etwas besser.

Freudsche Traumdeutung mit Ayahuasca – ein Selbstversuch

Sowohl in den Komunen der andinischen Campesinos, als auch in den Dörfern des Amazonasgebiet ist der Shamanaismus ein fester, wenn auch nicht offensichtlicher Bestandteil der Kultur. Der Shamane als zentrale Figur des Shamanismus ist Medizinmann, Priester und Naturkundler zugleich. Er heilt körperliche und geistige Leiden, vollführt verschiedene Rituale und Zeremonien, und verfügt über ein umfangreiches naturkundliches Wissen, sowie eine lange Erfahrung mit den ebengenannten Praktiken. Wenngleich mich nun Religion und Esotherik nicht sonderlich interessieren, wollte ich mich dieses Kultes, eines eigenen Urteils wegen, nicht verschliessen. Die Wahrscheinlichkeit einem Shamanen zu begegnen und diesen auch zu erkennen, ist nicht sonderlich groß, doch mit ein paar Beziehungen lässt sich so etwas erreichen. Romi, mein Dschungel-Guide, vermittelte mich an den Shamanen seines Dorfes mit der Bitte, mit mir die Ayahuasca-Zeremonie durchzuführen.Einer solchen Zeremonie geht eine ausführliche Vorbereitung ebenso vorraus, wie sich eine Nachbereitung anschließt. Die eigentliche Durchführung ist durch feste Abläufe bestimmt und baut grundsätzlich auf der Einnahme eines Gebräus verschiedener Pflanzen auf. In diesem Fall ist es die Ayahuasca-Liane (Banisteriopsis caapi) – sie enthält den MAO-Hemmer Harmin, welcher durch hinzufügen von Blättern des Chacruna-Strauchs (Psychotria viridis = DMT), länger wirkt. Die Zeremonie kann mehreren Zwecken dienen. Im wesentlichen geht es den Bewohnern von Puerto Miguel dabei jedoch um die Reinigung ihres Geistes in Hinblick auf die Bewältigung anstehender Aufgaben. Aber auch die Heilung von Krankheiten, den Kontakt zu Toten und Geistern und einen Blick in die Vergangenheit/Zunkunft. Verschiedene andere Beschwörungen sind wohl auch möglich. Ganz agnostisch, wollte ich dies gegenüber dem Shamanen weder verneinen, noch bejaaen, sondern einfach mal schauen, was passiert. Zu Anfang sollte ich ihm ein bisschen was über mich erzählen. Er erschien mir nicht sonderlich sympathisch, dafür jedoch etwas überheblich, und somit beließ ich es bei ein paar knappen Sätzen. Voller Überzeugung wollte er anschließend eine Diagnose meinerselbst abgeben, in dem er meinen Puls fühlte und meine Augen begutachtete. Nicht gerade zu meine Verblüffung, wiederholte er exakt das, was ich ihm kurz zuvor gesagt hatte; nämlich, dass ich mich in meiner Haut und mit meinem Geist gut fühle. Ich versuchte nun umgekehrt sein Befinden zu ermitteln und stieß auf gelblich-blasse Augen mit zahlreichen roten Flecken. Können sich Shamanen nicht selbst heilen, fragte ich mich.

Bereits am Vormittag sollte ich ihm beim Kochen des Trunks helfen. Die Lianenstücke zerdrückte ich mit einem Knüpel. Anschließend wurde alles für ca. 9 Stunden zusammen mit zwei Zigaretten über dem Feuer gekocht. Für den Rest des Tages wurde mir eine Diät verordnet, die mir lediglich den Genuß einer Gemüsesuppe erlaubte. Die Zeremonie begann bei Einbruch der vollständigen Dunkelheit. Der dafür vorgesehene Ort war eine außerhalb vom Ort gelegene Hütte. Außer einer Hängematte mit Moskitonetz gab es dort nichts. Möglichst relaxt und frei von jeglicher Aufregung sollte ich den Trip antreten. Er empfahl mir den wahrlich atemberaubenden Sonnenuntergang am Rio Maranion anzusehen und zu entspannen.

In der Zwischenzeit hatte sich eine Viper in die Feuergrube verirrt und in der Glut zu Tode verbissen. Der Shamane bedauerte dies sehr und konservierte sie in Alkohol. Das Ayahuasca-Süppchen füllten wir in zwei Flaschen und los ging’s: Im Dunklen saß ich auf dem Holzboden während er um mich tänzelte und immer wieder Tabakrauch herum fechelte. Durch seine Faust pustete er mir den vergleichsweise gut riechenden Qualm in meine gefalteten Hände, sowie auf den höchsten Punkt meines Kopfes. Schließlich füllte er den erkalteten Ayahuasca-Saft in eine hohle Holzkugel (Fruchtkapsel?), die ich in zwei Schlücken zu leeren hatte. Gesagt, getan. Nun sollte ich mir auch so einen Tobak anstecken und mit ihm dampfen. Pfui, die erste Zigarette in meinem Leben. Er pfiff und jodelt abermals sein Liedchen, während er, mit dem Blätter-Fecher raschelnd, um mich tänzelte. Mit geschlossenene Augen wartete ich darauf, das etwas passiert. So langsam sah ich ein paar düstre Bilder, aber nichts Spezielles. Drum nahm ich eine zweite Holzkugel mit Ayahuasca ein. Die düstren Bilder wechselten nun im Rhytmus seines Tanzes. Zunächst sah ich viele viele Augen. Tieraugen – von Krokodilen, Wildkatzen, Vögeln und Affen. Alles erschien wie ein Traum, den ich selbst zu kontrollieren vermochte. Die Augen waren mir nach einer Weile zu aufdringlich, statt dessen wollte ich Pflanzen und Bäume sehen. Und es kamen Bäume – vor allem solche, die ich tags zuvor im Wald gesehen hatten. Riesig groß und bildfüllend. Aus einem dieser Gehölze stach ein Affe aus dem Stamm hervor und verschwand wieder. Nun sah ich mich selbst – an einem Ast hängend. Ich schaukelte und schaukelte, bis mir scheinbar schwindlig wurde. Vieles begann sich zu drehen – vor allem drehte ich mich, d.h. ich sah, wie ich einen Salto nach dem Anderen machte. Hunderte Saltos, immer schneller und schnell, bis es mir abermals alles verwirbelte und neue dunkle Ornamente hervortraten. Irgendwann erblickte ich mich selbst aus der Nähe. Zumindest habe ich mich selbst erkannt, doch das Gesicht und der Körper entsprachen nicht der Realität und auch der Vergangenheit. Vielleicht ein Wunschbild, doch so unbedingt perfekt wirkte es nicht – eher älter. Es folgten wieder einige Saltos und ein Sprung in die Erde, zu den Wurzeln und schlußendlich auf zu einer erdigen Reise ans andere Ende der Welte, oder besser, nach Ulm ins Schlafzimmer meiner Freundin, wo ich unter der Bettdecke auftauchte und zugleich das Geschehen von oben überblickte. Ich versuchte mich auf anstehende Aufgaben zu konzentrieren und wandte meine Gedanken den bevorstehenden Prüfung bzw. meiner Diplomarbeit zu, was auch ohne weiteres möglich wurde. Ebenso war ich im Stande, mir die Eulerformel vorzustellen und herzuleiten, was mich sehr erstaunte (diese Aufgabe hatte ich mir vorab gestellt). Außerdem funktionierte mein Gedächtnis ausgezeichnet und vor allem bilderhaft. Sobald ich meine Augen öffnete, war alles wieder normal. Ayahuasca wirkte also traumbildend und bescherrte mir nur eine verzerrte Mischung dessen, was ich in den letzten Tagen erlebt, in Gedanken gehegt und mir mehr oder wenig bewusst gewünscht habe. Es braucht meines Erachtens nicht viel Wissen um Siegmund Freud’s Theorien der Traumdeutung, um (m)eine Ayahuasca-Vision zu deuten. Auch im Traum kann man logisch Denken, verborgene Wünsche entdecken und Wege verfolgen, die tags nicht gangbar waren (infantile Träume). Allerdings hatte ich nie zuvor erlebt, mich selbst in einem Traum zu sehen. Es war also eine außerkörperliche Erfahrung, wenn man so will. Ich nahm einen weiteren Schluck aus der Holzkugel – diesmal mit dem durchsichtigen Elixier gefüllt – und verspürte sofort den längst überfälligen Brechreiz. Es ist normal, dass man sich nach der Einnahme von Ayahuasca übergibt und seine Gemüsesuppe aus sich herauskotzt. Das Gefühl ist nicht gerade prickelnd, doch mir stieß es nach erneuter, visionsfreier Verabreichung der Tinktur, noch ein weiteres Mal bitter auf. Ehrlichgesagt konnte ich mir auch kaum vorstellen, wie ich eine Tinktur aus gelösten Nikotin anders überleben sollte. Nach insgesamt zwei bis drei Stunden Shamanentanz und Traumreise schlummerte ich etwas unruhig in meiner Hängematte bis der Tag erwachte. Etwas benommen und fast wie besoffen taumelte ich durchs Dorf. Um etwas normales Essen zu können, musste ich meine Diät vorzeitig beenden und einen ganzes 0,2L Glas Zuckerrohrschnaps trinken. Das hat nochmal reingehauen. Den Rest des Tages verbrachte ich im Beisein, um nicht zu sagen unter Aufsicht, des Shamanens. Wir gingen fischen und auf’s Dorffest, aber dazu später mehr.

Beim Piranha-Angeln

Viele Straßen führen nach Rom, doch keine nach Iquitos

Stimmt nicht, müßte ich der Richtigkeit halber sagen, denn es gibt eine Straße von Nauta nach Iquitos, doch Nauta ist seinerseits isoliert. Die Orte sind also nur auf dem Luft- oder Wasserweg erreichbar. Der letztere führte mich also dorthin. Durch’s Couchsurfing gelangte ich an Antonio, der seit wenigen Monaten die Produktionen im neuen Fernsehsender Chanal 49 leitet. Für seine zwei kleinen Kinder und seine Frau bleibt ihm deshalb nicht viel Zeit. In einem kleinem Häuschen im Stadtteil San Juan hat er sie untergebracht und mit zwei (nicht gerade fließigen) Haushälterin versorgt. Er gibt mir, ganz großzügig, ein eigenes Zimmer und lädt mich zum Abendessen an seinen Tisch. Wir plaudern über deutsche Fremdenfeindlichkeit und peruanischen Rassismus. Viele Altnazis hätten sich hier in einem der entlegenen Urwalddörfer eine Existenz aufgebaut. Sogar Adolf Hitler, so der Volksmund, wäre hier als Führer eines gänzlich unarischen Stammes alt geworden. Auch ein ehemaliger Bankdirektor in Iquitos hätte sich im Krieg den Deutschen verdient gemacht. Nach so viel Spekulation kamen wir glücklicherweise auf die vor uns stehende Chaufa de Pollo (Hünchen mit gebratenem Reis) zurück. Antonio liebt Filme, doch keine perunanischen. Die seien schlecht. Drum schauten wir uns nach dem Essen auch einen us-amerikaischen Streifen an. Auch sein Programm bei Chanal 49 führte er mir vor – leider war der Empfang mit der Antenne leicht vergrieselt.

Motos und alte Busse ohne Fenster, weils ja so warm ist.

Eine Schildkröte ohne Panzer.

Vormittags wollte ich mich mit Nadine treffen und die Internetseite einer mit ihr befreundeten Heilpraktikerin fixen. Mit falschen Zugangsdaten scheiterte diese Unternehmung bevor sie beginnen konnte. Nadine lebte schon eine ganze Weile in der Stadt der Mototaxis und wollte mich auf den Markt von Belen begleiten. Irgendwann kamen wir auf’s Spanisch-Lernen zu sprechen und stellten mit Verwunderung fest, dass wir die selbe Schule in Cusco besucht und uns um genau einen Tag verpasst hatten. Nun wurde mir klar, dass ich Nadine bereits aus den Erzählungen meiner Mitschüler kannte. So klein ist Peru.

 

Medizinalpflanzen, Pulverchen und andere Extrakte aus dem Urwald.

 

Der Markt von Belen ist groß und schmutzig. Belen ist eigentlich ein Dorf aus Pfahlbauten. Die Holzhäuser mit Dächern aus Palmenwedeln sind während der Regenzeit bzw. des Hochwassers nur per Boot erreichbar. Belen entstand als eine Siedlung von Indianern, die sich am Rande der reichen Kautschukstadt niederliessen, doch niemals ein Teil von ihr wurden.

Auf mich wirkte es abscheulich und bitterarm. In den vergangenen fünf Monaten hatte ich nichts vergleichbares gesehen. Unter den tiefen und schattenspendenden Dächern der Stände konnte man praktisch nachvollziehen, wie aus einem Ei im Laufe der Zeit ein Brathähnchen werden kann. Paletten von Hühnereiern, daneben eine Kückenaufzucht und überall mal ein Huhn, was im Müll herumpickt. Man beobachtet Frauen, die Hühner rupfen, ausnehmen und zerteilen.

Die Abfälle landen auf der Strasse, so dass sich Hunde und Geier nur so darauf stürzen. Die Stände, an denen Frauen verschiedenste Gerichte kochen, braten oder grillen sind so zahlreich, dass sie es trotzdem nicht schaffen, den Geruch von Fisch und Trockefleisch zu übertünchen. Mittendrin, statt nur dabei, sieht man verwahrloste Kinder, die barfuss durch den Biomüll laufen, und Babys, die sich schier unscheinbar, in ein Tuch gehüllt, an den Körper ihrer Mutter schmiegen. Gern werden sie vorgezeigt – mehr aus Kalkül, den ein oder anderen Sol vom Touristen zu erhalten, als aus Freude und Glückseligkeit über den eigenen Nachwuchs. Wenn auch nicht so nachdrücklich, wie am Titikakasee, so verstehen es die Kinder von Belen auch, ihre Armseligkeit wie ein Anti-Modell zur Schau zu stellen.

Die Zeit in Peru hat mich diesbezüglich gelehrt, eine aufmerksame und pragmatische Ignoranz an den Tag zu legen, die ohnehin der gelebten Doppelmoral eines nicht ungebildeten Westeuropäers entsprechen müsste. Mitleid ist das eine, das Festhalten am eigenen Lebenswandel das andere. Ich will damit nicht sagen, dass ich keinerlei persönliche Konsequenzen aus solcherlei Erfahrungen ziehe, doch schlußendlich diskutiert man lieber bei einem Bier mit Freunden über solcherlei Dinge, anstatt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

Angesichts der Hitze verbrachten wir den Rest des Nachmittages also mit einem kühlen Bier an der Uferpromenade. Immer wieder mal tauchten ein paar Straßenkinder mit der mehr oder weniger freundlichen Bitte nach Geld auf. Ihr kreativer Geschäftssinn ist beeindruckend und bemitleidenswert zu gleich. Sitzbänke der Motorräder bedecken sie als Schutz vor Sonne und Regen mit Pappe. Autos werden ohne Auffordung und Sichtung des Besitzers poliert. Bonbons aus Tüten werden einzeln verkauft und so weiter …

In Iquitos sind mir auffällig viele prollige Individualreisende, um nicht zu sagen Sextouristen, aufgefallen. Das die Stadt, wie jede andere in Peru, ein erhebliches Problem mit Kinderprostitution zu haben scheint, wird erfreulicherweise öffentlich angeprangert und bekämpft.

Die Quelle des Amazonas

Nach Einbruch der Dunkelheit begann die Realley durch den Urwald. Unser Wagen: ein Toyota Corolla; Unser Ziel: die Hafensatdt Yurimaguas. Mit 80 Sachen und 5-Mann Besatzung lagen wir recht gut auf der Piste. Ab und zu kam auch ein Stück Teerstrasse, da ging’s natürlich schneller. Blöd war nur der Gegenverkehr und die fehlende Fahrbahnmarkierung, aber dass hat den Fahrer weitaus weniger beunruhigt, als mich. Augenblicklich, als wir in Yurimaguas zum Stehen kamen, stürmte eine Gruppe Mototaxistas (Motorrd-Taxi-Fahrer) auf das Auto zu, um Touristen zu erspähen. Ich gehörte zu der von ihnen gesuchten Spezies und durfte mir zugleich ihren Chorgesang anhören: “Lagunas, Lagunas, Lancha a Iquitos, vamos, vamos”. Penetranter geht’s gar nicht. Da ich jedoch irgendwie vom Fleck kommen musste, sprang ich in eines ihrer Motos. In ein bestimmtes Hotel ‘Cesar ..irgendwie’ sollte er mich bringen. Er meinte, man habe es vor einem Jahr umbenannt, es heisst nun ‘Hostal Mirabel’. Die Frau an der Rezeption bestätigte mir dies zugleich. Mit ein wenig Widerwillen und größter Besorgnis gab sie mir ein Zimmer OHNE Fernseher. Für 15 Soles bekam ich Bett, Dusche, WC, Ventilator und eine Steckdose. Wie ich am nächsten Tag sehen sollte, existierte das von mir ursprünglich gesuchte Hotel sehr wohl noch unter seinem Namen. Man muss wissen, dass alle Taxistas ein Abkommen mit irgend einem Hotel haben und für jeden vermittelten Gast und Tag ein paar Soles erhalten. Gleiches gilt für Restaurants. Folglich ist man stets schlecht beraten, wenn man einen Taxista nach einem guten Restaurant fragt. Hinzu kommt, dass die Taxistas auch noch mit falschen Informationen aufwarten. So erzählte er mir beispielsweise, dass man bereits gegen 6 Uhr morgens auf dem Boot sein muess, um noch einen Platz zu erhalten. Als ich überpünktlich dort eintraf, war das Oberdeck noch fast menschenleer, da bis zur Abfahrt noch 6 Stunden vergehen sollten. Obendrein erfuhr ich, dass man an Bort vor Abfahrt kostenlos übernachten konnte und in Yurimaguas praktisch gar kein Hotel braucht. Nun gut, ich spannte meine neu erstandene Hängematte auf und lenzte vor mich hin. Später fuhr ich abermals in die Stadt, um mir auf dem Morgenmarkt ein paar Knapperein zu kaufen.

Zwischen Schildkröten, blinden Papageien und Affen gab es vor allem Lebensmittel des täglichen Bedarfs. Das Boot wurde währendessen weiter beladen. Reis, Bananen, Hühner, ein Hund in der Kiste, ein Auto, Zement und allerhand andere Säcke buckelten die Träger unter Deck.

Das darüberliegende Deck war für die zweite Klasse der Passagiere bestimmt. Ineinandergeschränkt hingen da gut über hundert Leute in ihren Matten. Die Fenster liessen sich zwar öffnen, doch die Hitze konnte trotzdem nicht entweichen. Wer den doppelten Fahrpreis für die zweiägige Reise aufbringen konnte, durfte mit dem luftigen Oberdeck vorlieb nehmen. Natürlich stand da wieder eine Glotze, auf der gleich am ersten Abend der Film “Titanic” lief. Wie passend. Für 500 Soles (120 Euro) konnte man sich den absoluten Luxus einer privaten Kabine mit Doppelbett geben. Da sich jedoch niemand der Anwesenden diesen Kompfort gönnen wollte, konnte die sympathische Stewardess Belalinda dort einziehen.

Ja, und so schipperten wir zunächst den Fluss namens Huallaga hinunter, der später in Marañón mündet und schliesslich mit dem Ucayali den Urspung des Amazonas bildet. Ansich war das nicht sonderlich spannend. Der Wald am Ufer schien weit weg und ausser ein paar Flussdelphine sahen wir kaum irgendwelche Tiere. Hin und wieder trieb ein Baum oder ein bisschen Müll an uns vorbei. Die Zeit verging beim Warten auf’s Essen oder beim Lesen in der Hängematte. Als durchaus interessant empfand ich die anderen Passagiere. Viele wollten den gesamten Amazonas per Boot befahren, manch andere, wie die beiden angehenden Fotojournalisten Michael und Jessica oder der EU-Gesandte Miguel hatten nützliches im Sinne. Michael und Jessica sind dabei die 10 meist verschmutzten Orte der Welt (Ranking fraglich) zu besuchen. Gleich zwei davon sind in ‘el Peru’: La Oroya und ein Dorf im Amazonasgebiet, welches stark unter der Erdoelförderung leidet. In La Oroya, der Stadt der “Children of Lead” (Kinder des Bleis) war ich auch schon, jedoch ohne zu wissen, wie schlimm es um die Bewohner steht. Angesichts meiner Arbeit bei ZINSA und der dort herschenden Zustände im Umgang mit Blei, werde ich mich daheim ebenfalls einem Bluttest unterziehen, um den Bleigehalt zu erfahren. Einer ganz anderen Problematik, nämlich der Abholzung des peruanischen Regenwaldes, kann man sich hier ebenfalls nicht verwehren. In 30 Jahren, so sagt man, soll es außerhalb der Nationalparks keinen Regenwald mehr geben. Vom Boot aus sieht man viele junge Bäume und nur sehr wenige Baumriesen. Besonders in der Nähe der Doefer prägen höchstens ein paar Sträucher und Palmen das Landschaftsbild. Unberührten Wald (Urwald Kategorie A) findet sich hier ganz bestimmt nicht mehr. Für jeden gefällten Baum müssten 20 neue gepflanzt werden, doch die Firmen sehen darin keinen ‘Return of Invest’ und den Leuten in den Doerfern mangelt es am nötigen Wissen. So wie man durch die einst vom Hochland-Dschungel begrünten und heute kahlgeschlagenen Anden fährt, wird man also bald auch diesen Teil des Landes als eine Wüste oder bestenfalls Gras- oder Forstlandschaft erleben. Miguel hat mir vieles dessen erzaehlt. Er selbst ist in Yurimaguas aufgewachsen, lebt nun in New York als EU-Beauftragter in Sachen Welthungerhilfe. Obwohl es absurd klingt, ist er damit beschäftigt in Peru Nahrungsmittel für Afrika zu beschaffen. Auch er weiß, dass es auch den Menschen in Peru an (vielseitiger) Nahrung fehlt. Ich war ziemlich verdutzt als mich des nachts auf dem unteren Deck, während einer kleinen Jam-Session, ein junger Kerl namens Imer ansprach, der dabei war, die Bevölkerung über ebendiese Mangelerscheinungen aufzuklären. Er bestätigte mir meine bisherige Vermutung, wonach der tägliche Konsum von (weissem) Reis auf Dauer schädlich ist (Vitamin B2 Mangel) und es der realen peruanischen Küche an Ausgewogenheit und Vielfalt fehlt – teils aus Armut, teils aus Unwissenheit der Menschen. Das letztgenannte Problem lässt sich leichter anpacken und so bereist Imer nun schon seit einem Jahr im Auftrag des Gesundheitsministeriums das Land – ständig um Dialog und um Aufklärung bemüht. Neben dem gesundheitlichen Aspekt geht es ihm gleichermaßen darum, den Leuten einen Sinn für ‘Vertrauen’ zu vermitteln. Das mag jetzt aus deutscher Sicht etwas lächerlich klingen, doch der Magel an Confianza – so der spanische Begriff – ist die Grundlage einer jeden Gemeinschaft – ganz gleich, ob es sich um eine Familie, ein Unternehmen oder einen Staat handelt. Das häufige Fremdgehen peruanischer Männer (und Frauen) begründet man gern etwas rassistisch mit dem Latino-Temprament (“el calor”), doch liegt die Ursache im Mangel an Zuneigung und Interesse, versichert mir Imer. Dabei musste ich an meine ehemaligen Arbeitskollegen bei ZINSA denken.

Im Verlauf der Schiffsreise konnte sich eigentlich niemand von uns über unzureichende Ernährung beklagen. Bei drei Malzeiten täglich fühlten wir uns durchaus gemästet. Auch das Problem der Abholzung offenbarte sich uns frühstens bei der Ankunft im Hafen von Iquitos, wo hunderte meter-dicke Baumstämme im Wasser trieben.

Die Zeit verging wie gesagt recht schleppend. In jedem größeren Dorf legten wir an, um Waren ab- und aufzuladen. Kleinere Dörfer, die nur wenige Güter zu tauschen vermochten, schickten kleine Boote zu uns herüber. Nie gab es jedoch richtige Anlegstellen, sondern vielmehr erdige Treppen, die dem saisonalen Wasserstand entsprechend viele Stufen hatten. Die Leute schleppten zumeist gleich zwei große Säcke aufeinmal. Einmal sollte ein Schwein aufs Boot – anstatt es jedoch auf vier Pfoten den Hang hinunter laufen zu lassen, zogen es zwei Männer mit einem Strick am Hinterlauf  den Hang hinunter. Es schrie, wie am Spieß und kam erst zur Ruh’, als es nahe des Dieselmotors angebunden wurde.