Bereits vor dem Tag beim Shamanen weilte ich drei Tage und Nächte im Urwalddorf Puerto Miguel. Die Nacht zuvor hatte ich in einer Disco in Iquitos durchtanzt und entsprechend schläfrig verbrachte ich die vierstündige Bootsfahrt nach Puerto Miguel. Romi – mein Dschungel-Guide – hieß mich mit seiner Freundin und seinem Sohn Romi Junior willkommen.
Romi Junior und sein Vater am Ruder des Bootes
Wir schleppten eine Menge Kisten quer durchs Dorf zu einem anderen Flussarm, auf dem wir ins Camp gelangen sollten. Es war so heiß und schwül, dass ich einem Bad im dunkelbraunen Fluß nicht wiederstehen konnte. Eine halbe heiße Stunde später erreichten wir das relaxte Camp. Drei große Pfahlbauten, von denen nur einem die Moskitohülle fehlte, waren fortan unser Heim. Inzwischen hatten sich noch andere Familienangehörige von Romi’s Freundin eingefunden. Sie kochten und wuschen ihre Sachen. Ich war der einzige Tourist im geräumigen Aufenthalts-, Ess- und Schlafhaus mit den Hängematten. Überflüssigerweise wollte man mir drei Malzeiten täglich servieren, die mich angesichts der Wärme noch mehr gelähmt hätten. Ein wenig Obst reicht vollkommen aus, sagte ich. In der angenehmen Nachmittagssonne unternahmen wir eine erste Wanderung in den umgebenden Wald, weitere Touren sollten folgen. Wenngleich ich nicht vermag, dieses Dickicht mit Worten zu beschreiben, sei nur so viel gesagt, dass mich ein ähnliches Gefühl überkam, als wenn ich in heimischen (wenig berührten) Wäldern unterwegs bin. Romi zeigte mir eine Reihe von Pflanzen und Tierchen:
Ein Baum namens Ficus, dessen Stamm sich drei Meter über dem Boden aus einer Vielzahl von Arcadenbögen zu einem Geflecht vereinigt. Victoria Rechia – die Pflanze mit den größten Blättern. Riesige Isula-Ameisen, derer sieben Bisse das Herz eines Menschen zum Stillstand bringen. Fast allgegenwärtig, die Möbelpacker unter den Ameisen, die im Verhältnis zu ihrer eigenen Körperabmessungen doppelt so große Blätter wie Sonnensegel transportieren. Interessanterweise sehen einige dieser Ameisenvölker eine Schlange als ihre Königing an und versorgen diese mit Nahrung. Auf einer Ameisenstraße zählte ich einmal sieben verschiedenen Arten, die sich ähnlich wie im peruanischen Straßenverkehr, schier ohne Ordnung und dennoch fliessend in beiderlei Richtungen fortbewegten. In den Früchten der hölzernen (geschlossenen!) Chapacha-Frucht fand ich jene Maden wieder, die ich tags zuvor auf dem Markt in Iquitos vom Grillspieß gegessen hatte. Sie eignen sich abgesehen davon ausgezeichnet als Köder beim Angeln, meinte Romi. An einigen Lianen konnten man sich als Tarzan versuchen, an anderen seine Wasserflasche auffüllen ohne chemische Reinigungsmittel bemischen zu müssen. Dann waren da noch Affen, die man mit etwas Übung in der Ferne erblicken und hören konnte:
- Schwarze Kapuziner Affen (cebus capuchino nigritus)
- Braune Kapuziner Affen (cebus capuchino olivaceus)
- Ein einzelgängerischer (ramura) Kapuziner Affe (cebus capuchino ramura)
- Rückenstreifen-Kapuziner (cebus libidinosus)
- Totenkopfäffchen (mono titi), die Menschen auf 100m gegen den Wind riechen und hören
Natürlich sahen wir auch eine Menge Vögel, wie zum Beispiel den Martin Pescador (Amazonasfischer), den sogenannten Prehistorico (ein, dem Urvogel ähnliches Federvieh), nach Termiten suchende Spechte und einen hellbraunen Falken namens Oportunista, der anderen Vögeln den Fisch aus dem Schnabel klaut. Abgesehen von den Schwärmen der possierlich grünen Loros, sah ich leider keine weiteren Papageien.Wie schon mit dem Shamanen, ging ich auch mit Romi ein weiteres mal zum Fischen. Wenngleich mir zahlreiche Fische am Haken hängen blieben, so waren sie doch nicht sonderlich groß. Zwei Cichla (Tucunari), ein kleiner Foxfish, sowie weisse, graue und rosa Piranha, die übrigens nicht besonders delikat schmecken, landeten später in der Pfanne.
Cichla, ein grauer, ein rosa und ein weißer Piranha
Während der Regenzeit, wenn die Piranhas ihre Eier in sich tragen, reicht es die Hand knapp über die Wasseroberfläche zu halten, um gebissen zu werden. Derzeit sei es ungefährlich, versichert mir Romi, doch unlängst knusperten die Piranhas hier einem Argentinier die Brustwarze ab. Prima dachte ich und beschloss fortan das Bad und die damit verbundene Körperreinigung im Fluss zu unterlassen. In den vergangen Tagen hatte ich mich schon gewundert, was mich beim Delphin-Schwimmen immer an den Füßen berührt. Dabei ist Bewegung im Wasser die beste Möglichkeit Piranhas anzulocken – nicht nur beim Angeln.
Ursprünglich waren die Bauten rund, doch die Spanier inspierierten die Indios zur Rechteckbauweise.
In ganz Peru feierte man die Woche des Waldes (Semana Bosque) und kürte deswegen auch eine Miss Bosque, als quasi eine Schönheitskönigin oder Primavera (je Altersklasse), wie man hier sagt. Bereits in Iquitos bediente mich eine der dortigen Primaveras in einem Pizzarestaurant (ich mag kein peruanisches Essen mehr), eines Küsschens wegen. Die Dorfgemeinschaft von Puerto Miguel wollte an diesem Abend ihre Primavera präsentieren und gebührend feiern. Ganz selbstverständlich sollte ich daran teilhaben und zudem als erster mit ihr tanzen. Oh Jott, welch grausiges Gringo-Privileg für einen, dem die hiesigen Tanzrhythmen immer noch fremd sind. Fast das ganze Dorf hatte sich unter dem Dach der (Freiluft-)Schule versammelt. Die Leute hier sind es eigentlich gewohnt, aus Mangel an elektrischem Licht, gegen sieben Uhr abends schlafen zu gehen, deshalb verwunderte es nicht, dass die meisten Kinder und einige Erwachsene während des Show-Programms auf den Schulbänken einschliefen. Der Dialekt der des Show-Masters und die maßlos übersteuerte PA machten es mir unmöglich auch nur ein Wort zu verstehen.
Die Dorfband, derzeit noch ohne echte Instrumente, spielte modernen LatinoPop.
Traditionelle Musik hören die Leute lediglich zu den Feierlichkeiten anlässlich des Dorfjubileums. Nachdem eine amüsante Karaoke-Band auf ihren Instrumentimitationen in die Tasten und Saiten gehauen hatte, besuchte ich die einzigen beiden Dorfkneipen – gleich auf der anderen Seite der Schlammpfütze auf dem Dorfplatz. Die Leute dort schauten Fussball und lauschten der Musik einer coolen lokalen Band namens Solido 2000 de Tarapoto. Ein Bier kühlte meinen Kopf von innen. Schließlich kam die Dorfdisco in die Gänge und ich erfüllte meine Pflicht gegenüber der doch ganz sympathischen Miss Primavera. Vielleicht schafft sie es ja zur Miss Peru. Es war üblich nach jedem Lied den Tanzpartner zu wechseln; und so tat ich es. Die Rhythmen waren dann doch nicht so schlecht, oder sollte das an der Rum-Cola-Mischung gelegen haben, die man mir fortlaufend ins Glas füllte? Diese bewegende Partynacht schien sich bis in die Morgenstunden zu erstrecken. Klein Romi, er war gerade mal drei Jahre alt. Sprang auch noch rum. Ich zeigte ihm, wie er die Thron-Stühle der Primaveras ihrem Ursprünglichen Zweck zuführen konnte. Es waren Cajons, also jene Holzkisten mit Loch, die im Stande sind ein ganzes Schlagzeug zu ersetzen. Binnen weniger Minuten kann man lernen, auf einem Cajon zu spielen. Auch Romi Junior hat das sofort hinbekommen. Die Nacht verbrachte ich abermals in der entlegenen Hütte des Shamanens, der bis fünf Uhr, immer noch stark trunken, das Tanzbein schwang.
Traditionell ernärten sich die Menschen hier von Yuca, Bananen, Fisch und verschiedenen Früchten. Seit nun mehr als 30-60 Jahren hat der Reis die Yuca und (Koch-)Bananen weitestgehend verdrängt. Als Konsequenz dessen mussten Urwaldflächen abgeholzt werden, um Reis anzubauen. Reis mit dem Schiff nach Puerto Miguel bzw. Iquitos zu transportieren verteuert den Preis pro Sack um 20 Soles – zu viel für die Menschen in den Dörfern.
Der Wind trennt die Schalen vom Reiskorn. Vorher hat er den Reis gestampft.
Not macht erfinderisch und eine aufgeblasene Plastiktüte zum Volleyball. In der Regel ist es der Sport der Mädchen, Jungen bevorzugen Fußball.
Alles in allem war ich froh in mal eine Zeit in einem solchen Dorf gelebt zu haben. Es war von vornherei nicht mein Ziel einen möglichst ursprünglich lebenden Indianerstamm aufzusuchen, da sich diese ohnehin in unzugängliches Terrain zurrückgezogen haben und zweitens durch meinen Einfluss nicht so werden müssen, wie wir schon sind. Werner Herzogs Kurzfilmbeitrag in Ten Minutes Older: “The Trumpet” beschrreibt die Problematik etwas besser.