Nackt unter Piranhas

Bereits vor dem Tag beim Shamanen weilte ich drei Tage und Nächte im Urwalddorf Puerto Miguel. Die Nacht zuvor hatte ich in einer Disco in Iquitos durchtanzt und entsprechend schläfrig verbrachte ich die vierstündige Bootsfahrt nach Puerto Miguel. Romi – mein Dschungel-Guide – hieß mich mit seiner Freundin und seinem Sohn Romi Junior willkommen.

Romi Junior und sein Vater am Ruder des Bootes

Wir schleppten eine Menge Kisten quer durchs Dorf zu einem anderen Flussarm, auf dem wir ins Camp gelangen sollten. Es war so heiß und schwül, dass ich einem Bad im dunkelbraunen Fluß nicht wiederstehen konnte. Eine halbe heiße Stunde später erreichten wir das relaxte Camp. Drei große Pfahlbauten, von denen nur einem die Moskitohülle fehlte, waren fortan unser Heim. Inzwischen hatten sich noch andere Familienangehörige von Romi’s Freundin eingefunden. Sie kochten und wuschen ihre Sachen. Ich war der einzige Tourist im geräumigen Aufenthalts-, Ess- und Schlafhaus mit den Hängematten. Überflüssigerweise wollte man mir drei Malzeiten täglich servieren, die mich angesichts der Wärme noch mehr gelähmt hätten. Ein wenig Obst reicht vollkommen aus, sagte ich. In der angenehmen Nachmittagssonne unternahmen wir eine erste Wanderung in den umgebenden Wald, weitere Touren sollten folgen. Wenngleich ich nicht vermag, dieses Dickicht mit Worten zu beschreiben, sei nur so viel gesagt, dass mich ein ähnliches Gefühl überkam, als wenn ich in heimischen (wenig berührten) Wäldern unterwegs bin. Romi zeigte mir eine Reihe von Pflanzen und Tierchen:

Ein Baum namens Ficus, dessen Stamm sich drei Meter über dem Boden aus einer Vielzahl von Arcadenbögen zu einem Geflecht vereinigt. Victoria Rechia – die Pflanze mit den größten Blättern. Riesige Isula-Ameisen, derer sieben Bisse das Herz eines Menschen zum Stillstand bringen. Fast allgegenwärtig, die Möbelpacker unter den Ameisen, die im Verhältnis zu ihrer eigenen Körperabmessungen doppelt so große Blätter wie Sonnensegel transportieren. Interessanterweise sehen einige dieser Ameisenvölker eine Schlange als ihre Königing an und versorgen diese mit Nahrung. Auf einer Ameisenstraße zählte ich einmal sieben verschiedenen Arten, die sich ähnlich wie im peruanischen Straßenverkehr, schier ohne Ordnung und dennoch fliessend in beiderlei Richtungen fortbewegten. In den Früchten der hölzernen (geschlossenen!) Chapacha-Frucht fand ich jene Maden wieder, die ich tags zuvor auf dem Markt in Iquitos vom Grillspieß gegessen hatte. Sie eignen sich abgesehen davon ausgezeichnet als Köder beim Angeln, meinte Romi. An einigen Lianen konnten man sich als Tarzan versuchen, an anderen seine Wasserflasche auffüllen ohne chemische Reinigungsmittel bemischen zu müssen. Dann waren da noch Affen, die man mit etwas Übung in der Ferne erblicken und hören konnte:

  • Schwarze Kapuziner Affen (cebus capuchino nigritus)
  • Braune Kapuziner Affen (cebus capuchino olivaceus)
  • Ein einzelgängerischer (ramura) Kapuziner Affe (cebus capuchino ramura)
  • Rückenstreifen-Kapuziner (cebus libidinosus)
  • Totenkopfäffchen (mono titi), die Menschen auf 100m gegen den Wind riechen und hören

Natürlich sahen wir auch eine Menge Vögel, wie zum Beispiel den Martin Pescador (Amazonasfischer), den sogenannten Prehistorico (ein, dem Urvogel ähnliches Federvieh), nach Termiten suchende Spechte und einen hellbraunen Falken namens Oportunista, der anderen Vögeln den Fisch aus dem Schnabel klaut. Abgesehen von den Schwärmen der possierlich grünen Loros, sah ich leider keine weiteren Papageien.Wie schon mit dem Shamanen, ging ich auch mit Romi ein weiteres mal zum Fischen. Wenngleich mir zahlreiche Fische am Haken hängen blieben, so waren sie doch nicht sonderlich groß. Zwei Cichla (Tucunari), ein kleiner Foxfish, sowie weisse, graue und rosa Piranha, die übrigens nicht besonders delikat schmecken, landeten später in der Pfanne.

Cichla, ein grauer, ein rosa und ein weißer Piranha

Während der Regenzeit, wenn die Piranhas ihre Eier in sich tragen, reicht es die Hand knapp über die Wasseroberfläche zu halten, um gebissen zu werden. Derzeit sei es ungefährlich, versichert mir Romi, doch unlängst knusperten die Piranhas hier einem Argentinier die Brustwarze ab. Prima dachte ich und beschloss fortan das Bad und die damit verbundene Körperreinigung im Fluss zu unterlassen. In den vergangen Tagen hatte ich mich schon gewundert, was mich beim Delphin-Schwimmen immer an den Füßen berührt. Dabei ist Bewegung im Wasser die beste Möglichkeit Piranhas anzulocken – nicht nur beim Angeln.

Ursprünglich waren die Bauten rund, doch die Spanier inspierierten die Indios zur Rechteckbauweise.

In ganz Peru feierte man die Woche des Waldes (Semana Bosque) und kürte deswegen auch eine Miss Bosque, als quasi eine Schönheitskönigin oder Primavera (je Altersklasse), wie man hier sagt. Bereits in Iquitos bediente mich eine der dortigen Primaveras in einem Pizzarestaurant (ich mag kein peruanisches Essen mehr), eines Küsschens wegen. Die Dorfgemeinschaft von Puerto Miguel wollte an diesem Abend ihre Primavera präsentieren und gebührend feiern. Ganz selbstverständlich sollte ich daran teilhaben und zudem als erster mit ihr tanzen. Oh Jott, welch grausiges Gringo-Privileg für einen, dem die hiesigen Tanzrhythmen immer noch fremd sind. Fast das ganze Dorf hatte sich unter dem Dach der (Freiluft-)Schule versammelt. Die Leute hier sind es eigentlich gewohnt, aus Mangel an elektrischem Licht, gegen sieben Uhr abends schlafen zu gehen, deshalb verwunderte es nicht, dass die meisten Kinder und einige Erwachsene während des Show-Programms auf den Schulbänken einschliefen. Der Dialekt der des Show-Masters und die maßlos übersteuerte PA machten es mir unmöglich auch nur ein Wort zu verstehen.

Die Dorfband, derzeit noch ohne echte Instrumente, spielte modernen LatinoPop.

Traditionelle Musik hören die Leute lediglich zu den Feierlichkeiten anlässlich des Dorfjubileums. Nachdem eine amüsante Karaoke-Band auf ihren Instrumentimitationen in die Tasten und Saiten gehauen hatte, besuchte ich die einzigen beiden Dorfkneipen – gleich auf der anderen Seite der Schlammpfütze auf dem Dorfplatz. Die Leute dort schauten Fussball und lauschten der Musik einer coolen lokalen Band namens Solido 2000 de Tarapoto. Ein Bier kühlte meinen Kopf von innen. Schließlich kam die Dorfdisco in die Gänge und ich erfüllte meine Pflicht gegenüber der doch ganz sympathischen Miss Primavera. Vielleicht schafft sie es ja zur Miss Peru. Es war üblich nach jedem Lied den Tanzpartner zu wechseln; und so tat ich es. Die Rhythmen waren dann doch nicht so schlecht, oder sollte das an der Rum-Cola-Mischung gelegen haben, die man mir fortlaufend ins Glas füllte? Diese bewegende Partynacht schien sich bis in die Morgenstunden zu erstrecken. Klein Romi, er war gerade mal drei Jahre alt. Sprang auch noch rum. Ich zeigte ihm, wie er die Thron-Stühle der Primaveras ihrem Ursprünglichen Zweck zuführen konnte. Es waren Cajons, also jene Holzkisten mit Loch, die im Stande sind ein ganzes Schlagzeug zu ersetzen. Binnen weniger Minuten kann man lernen, auf einem Cajon zu spielen. Auch Romi Junior hat das sofort hinbekommen. Die Nacht verbrachte ich abermals in der entlegenen Hütte des Shamanens, der bis fünf Uhr, immer noch stark trunken, das Tanzbein schwang.


Traditionell ernärten sich die Menschen hier von Yuca, Bananen, Fisch und verschiedenen Früchten. Seit nun mehr als 30-60 Jahren hat der Reis die Yuca und (Koch-)Bananen weitestgehend verdrängt. Als Konsequenz dessen mussten Urwaldflächen abgeholzt werden, um Reis anzubauen. Reis mit dem Schiff nach Puerto Miguel bzw. Iquitos zu transportieren verteuert den Preis pro Sack um 20 Soles – zu viel für die Menschen in den Dörfern.

Der Wind trennt die Schalen vom Reiskorn. Vorher hat er den Reis gestampft.

Not macht erfinderisch und eine aufgeblasene Plastiktüte zum Volleyball. In der Regel ist es der Sport der Mädchen, Jungen bevorzugen Fußball.

Alles in allem war ich froh in mal eine Zeit in einem solchen Dorf gelebt zu haben. Es war von vornherei nicht mein Ziel einen möglichst ursprünglich lebenden Indianerstamm aufzusuchen, da sich diese ohnehin in unzugängliches Terrain zurrückgezogen haben und zweitens durch meinen Einfluss nicht so werden müssen, wie wir schon sind. Werner Herzogs Kurzfilmbeitrag in Ten Minutes Older: “The Trumpet” beschrreibt die Problematik etwas besser.

Viele Straßen führen nach Rom, doch keine nach Iquitos

Stimmt nicht, müßte ich der Richtigkeit halber sagen, denn es gibt eine Straße von Nauta nach Iquitos, doch Nauta ist seinerseits isoliert. Die Orte sind also nur auf dem Luft- oder Wasserweg erreichbar. Der letztere führte mich also dorthin. Durch’s Couchsurfing gelangte ich an Antonio, der seit wenigen Monaten die Produktionen im neuen Fernsehsender Chanal 49 leitet. Für seine zwei kleinen Kinder und seine Frau bleibt ihm deshalb nicht viel Zeit. In einem kleinem Häuschen im Stadtteil San Juan hat er sie untergebracht und mit zwei (nicht gerade fließigen) Haushälterin versorgt. Er gibt mir, ganz großzügig, ein eigenes Zimmer und lädt mich zum Abendessen an seinen Tisch. Wir plaudern über deutsche Fremdenfeindlichkeit und peruanischen Rassismus. Viele Altnazis hätten sich hier in einem der entlegenen Urwalddörfer eine Existenz aufgebaut. Sogar Adolf Hitler, so der Volksmund, wäre hier als Führer eines gänzlich unarischen Stammes alt geworden. Auch ein ehemaliger Bankdirektor in Iquitos hätte sich im Krieg den Deutschen verdient gemacht. Nach so viel Spekulation kamen wir glücklicherweise auf die vor uns stehende Chaufa de Pollo (Hünchen mit gebratenem Reis) zurück. Antonio liebt Filme, doch keine perunanischen. Die seien schlecht. Drum schauten wir uns nach dem Essen auch einen us-amerikaischen Streifen an. Auch sein Programm bei Chanal 49 führte er mir vor – leider war der Empfang mit der Antenne leicht vergrieselt.

Motos und alte Busse ohne Fenster, weils ja so warm ist.

Eine Schildkröte ohne Panzer.

Vormittags wollte ich mich mit Nadine treffen und die Internetseite einer mit ihr befreundeten Heilpraktikerin fixen. Mit falschen Zugangsdaten scheiterte diese Unternehmung bevor sie beginnen konnte. Nadine lebte schon eine ganze Weile in der Stadt der Mototaxis und wollte mich auf den Markt von Belen begleiten. Irgendwann kamen wir auf’s Spanisch-Lernen zu sprechen und stellten mit Verwunderung fest, dass wir die selbe Schule in Cusco besucht und uns um genau einen Tag verpasst hatten. Nun wurde mir klar, dass ich Nadine bereits aus den Erzählungen meiner Mitschüler kannte. So klein ist Peru.

 

Medizinalpflanzen, Pulverchen und andere Extrakte aus dem Urwald.

 

Der Markt von Belen ist groß und schmutzig. Belen ist eigentlich ein Dorf aus Pfahlbauten. Die Holzhäuser mit Dächern aus Palmenwedeln sind während der Regenzeit bzw. des Hochwassers nur per Boot erreichbar. Belen entstand als eine Siedlung von Indianern, die sich am Rande der reichen Kautschukstadt niederliessen, doch niemals ein Teil von ihr wurden.

Auf mich wirkte es abscheulich und bitterarm. In den vergangenen fünf Monaten hatte ich nichts vergleichbares gesehen. Unter den tiefen und schattenspendenden Dächern der Stände konnte man praktisch nachvollziehen, wie aus einem Ei im Laufe der Zeit ein Brathähnchen werden kann. Paletten von Hühnereiern, daneben eine Kückenaufzucht und überall mal ein Huhn, was im Müll herumpickt. Man beobachtet Frauen, die Hühner rupfen, ausnehmen und zerteilen.

Die Abfälle landen auf der Strasse, so dass sich Hunde und Geier nur so darauf stürzen. Die Stände, an denen Frauen verschiedenste Gerichte kochen, braten oder grillen sind so zahlreich, dass sie es trotzdem nicht schaffen, den Geruch von Fisch und Trockefleisch zu übertünchen. Mittendrin, statt nur dabei, sieht man verwahrloste Kinder, die barfuss durch den Biomüll laufen, und Babys, die sich schier unscheinbar, in ein Tuch gehüllt, an den Körper ihrer Mutter schmiegen. Gern werden sie vorgezeigt – mehr aus Kalkül, den ein oder anderen Sol vom Touristen zu erhalten, als aus Freude und Glückseligkeit über den eigenen Nachwuchs. Wenn auch nicht so nachdrücklich, wie am Titikakasee, so verstehen es die Kinder von Belen auch, ihre Armseligkeit wie ein Anti-Modell zur Schau zu stellen.

Die Zeit in Peru hat mich diesbezüglich gelehrt, eine aufmerksame und pragmatische Ignoranz an den Tag zu legen, die ohnehin der gelebten Doppelmoral eines nicht ungebildeten Westeuropäers entsprechen müsste. Mitleid ist das eine, das Festhalten am eigenen Lebenswandel das andere. Ich will damit nicht sagen, dass ich keinerlei persönliche Konsequenzen aus solcherlei Erfahrungen ziehe, doch schlußendlich diskutiert man lieber bei einem Bier mit Freunden über solcherlei Dinge, anstatt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

Angesichts der Hitze verbrachten wir den Rest des Nachmittages also mit einem kühlen Bier an der Uferpromenade. Immer wieder mal tauchten ein paar Straßenkinder mit der mehr oder weniger freundlichen Bitte nach Geld auf. Ihr kreativer Geschäftssinn ist beeindruckend und bemitleidenswert zu gleich. Sitzbänke der Motorräder bedecken sie als Schutz vor Sonne und Regen mit Pappe. Autos werden ohne Auffordung und Sichtung des Besitzers poliert. Bonbons aus Tüten werden einzeln verkauft und so weiter …

In Iquitos sind mir auffällig viele prollige Individualreisende, um nicht zu sagen Sextouristen, aufgefallen. Das die Stadt, wie jede andere in Peru, ein erhebliches Problem mit Kinderprostitution zu haben scheint, wird erfreulicherweise öffentlich angeprangert und bekämpft.

Die Quelle des Amazonas

Nach Einbruch der Dunkelheit begann die Realley durch den Urwald. Unser Wagen: ein Toyota Corolla; Unser Ziel: die Hafensatdt Yurimaguas. Mit 80 Sachen und 5-Mann Besatzung lagen wir recht gut auf der Piste. Ab und zu kam auch ein Stück Teerstrasse, da ging’s natürlich schneller. Blöd war nur der Gegenverkehr und die fehlende Fahrbahnmarkierung, aber dass hat den Fahrer weitaus weniger beunruhigt, als mich. Augenblicklich, als wir in Yurimaguas zum Stehen kamen, stürmte eine Gruppe Mototaxistas (Motorrd-Taxi-Fahrer) auf das Auto zu, um Touristen zu erspähen. Ich gehörte zu der von ihnen gesuchten Spezies und durfte mir zugleich ihren Chorgesang anhören: “Lagunas, Lagunas, Lancha a Iquitos, vamos, vamos”. Penetranter geht’s gar nicht. Da ich jedoch irgendwie vom Fleck kommen musste, sprang ich in eines ihrer Motos. In ein bestimmtes Hotel ‘Cesar ..irgendwie’ sollte er mich bringen. Er meinte, man habe es vor einem Jahr umbenannt, es heisst nun ‘Hostal Mirabel’. Die Frau an der Rezeption bestätigte mir dies zugleich. Mit ein wenig Widerwillen und größter Besorgnis gab sie mir ein Zimmer OHNE Fernseher. Für 15 Soles bekam ich Bett, Dusche, WC, Ventilator und eine Steckdose. Wie ich am nächsten Tag sehen sollte, existierte das von mir ursprünglich gesuchte Hotel sehr wohl noch unter seinem Namen. Man muss wissen, dass alle Taxistas ein Abkommen mit irgend einem Hotel haben und für jeden vermittelten Gast und Tag ein paar Soles erhalten. Gleiches gilt für Restaurants. Folglich ist man stets schlecht beraten, wenn man einen Taxista nach einem guten Restaurant fragt. Hinzu kommt, dass die Taxistas auch noch mit falschen Informationen aufwarten. So erzählte er mir beispielsweise, dass man bereits gegen 6 Uhr morgens auf dem Boot sein muess, um noch einen Platz zu erhalten. Als ich überpünktlich dort eintraf, war das Oberdeck noch fast menschenleer, da bis zur Abfahrt noch 6 Stunden vergehen sollten. Obendrein erfuhr ich, dass man an Bort vor Abfahrt kostenlos übernachten konnte und in Yurimaguas praktisch gar kein Hotel braucht. Nun gut, ich spannte meine neu erstandene Hängematte auf und lenzte vor mich hin. Später fuhr ich abermals in die Stadt, um mir auf dem Morgenmarkt ein paar Knapperein zu kaufen.

Zwischen Schildkröten, blinden Papageien und Affen gab es vor allem Lebensmittel des täglichen Bedarfs. Das Boot wurde währendessen weiter beladen. Reis, Bananen, Hühner, ein Hund in der Kiste, ein Auto, Zement und allerhand andere Säcke buckelten die Träger unter Deck.

Das darüberliegende Deck war für die zweite Klasse der Passagiere bestimmt. Ineinandergeschränkt hingen da gut über hundert Leute in ihren Matten. Die Fenster liessen sich zwar öffnen, doch die Hitze konnte trotzdem nicht entweichen. Wer den doppelten Fahrpreis für die zweiägige Reise aufbringen konnte, durfte mit dem luftigen Oberdeck vorlieb nehmen. Natürlich stand da wieder eine Glotze, auf der gleich am ersten Abend der Film “Titanic” lief. Wie passend. Für 500 Soles (120 Euro) konnte man sich den absoluten Luxus einer privaten Kabine mit Doppelbett geben. Da sich jedoch niemand der Anwesenden diesen Kompfort gönnen wollte, konnte die sympathische Stewardess Belalinda dort einziehen.

Ja, und so schipperten wir zunächst den Fluss namens Huallaga hinunter, der später in Marañón mündet und schliesslich mit dem Ucayali den Urspung des Amazonas bildet. Ansich war das nicht sonderlich spannend. Der Wald am Ufer schien weit weg und ausser ein paar Flussdelphine sahen wir kaum irgendwelche Tiere. Hin und wieder trieb ein Baum oder ein bisschen Müll an uns vorbei. Die Zeit verging beim Warten auf’s Essen oder beim Lesen in der Hängematte. Als durchaus interessant empfand ich die anderen Passagiere. Viele wollten den gesamten Amazonas per Boot befahren, manch andere, wie die beiden angehenden Fotojournalisten Michael und Jessica oder der EU-Gesandte Miguel hatten nützliches im Sinne. Michael und Jessica sind dabei die 10 meist verschmutzten Orte der Welt (Ranking fraglich) zu besuchen. Gleich zwei davon sind in ‘el Peru’: La Oroya und ein Dorf im Amazonasgebiet, welches stark unter der Erdoelförderung leidet. In La Oroya, der Stadt der “Children of Lead” (Kinder des Bleis) war ich auch schon, jedoch ohne zu wissen, wie schlimm es um die Bewohner steht. Angesichts meiner Arbeit bei ZINSA und der dort herschenden Zustände im Umgang mit Blei, werde ich mich daheim ebenfalls einem Bluttest unterziehen, um den Bleigehalt zu erfahren. Einer ganz anderen Problematik, nämlich der Abholzung des peruanischen Regenwaldes, kann man sich hier ebenfalls nicht verwehren. In 30 Jahren, so sagt man, soll es außerhalb der Nationalparks keinen Regenwald mehr geben. Vom Boot aus sieht man viele junge Bäume und nur sehr wenige Baumriesen. Besonders in der Nähe der Doefer prägen höchstens ein paar Sträucher und Palmen das Landschaftsbild. Unberührten Wald (Urwald Kategorie A) findet sich hier ganz bestimmt nicht mehr. Für jeden gefällten Baum müssten 20 neue gepflanzt werden, doch die Firmen sehen darin keinen ‘Return of Invest’ und den Leuten in den Doerfern mangelt es am nötigen Wissen. So wie man durch die einst vom Hochland-Dschungel begrünten und heute kahlgeschlagenen Anden fährt, wird man also bald auch diesen Teil des Landes als eine Wüste oder bestenfalls Gras- oder Forstlandschaft erleben. Miguel hat mir vieles dessen erzaehlt. Er selbst ist in Yurimaguas aufgewachsen, lebt nun in New York als EU-Beauftragter in Sachen Welthungerhilfe. Obwohl es absurd klingt, ist er damit beschäftigt in Peru Nahrungsmittel für Afrika zu beschaffen. Auch er weiß, dass es auch den Menschen in Peru an (vielseitiger) Nahrung fehlt. Ich war ziemlich verdutzt als mich des nachts auf dem unteren Deck, während einer kleinen Jam-Session, ein junger Kerl namens Imer ansprach, der dabei war, die Bevölkerung über ebendiese Mangelerscheinungen aufzuklären. Er bestätigte mir meine bisherige Vermutung, wonach der tägliche Konsum von (weissem) Reis auf Dauer schädlich ist (Vitamin B2 Mangel) und es der realen peruanischen Küche an Ausgewogenheit und Vielfalt fehlt – teils aus Armut, teils aus Unwissenheit der Menschen. Das letztgenannte Problem lässt sich leichter anpacken und so bereist Imer nun schon seit einem Jahr im Auftrag des Gesundheitsministeriums das Land – ständig um Dialog und um Aufklärung bemüht. Neben dem gesundheitlichen Aspekt geht es ihm gleichermaßen darum, den Leuten einen Sinn für ‘Vertrauen’ zu vermitteln. Das mag jetzt aus deutscher Sicht etwas lächerlich klingen, doch der Magel an Confianza – so der spanische Begriff – ist die Grundlage einer jeden Gemeinschaft – ganz gleich, ob es sich um eine Familie, ein Unternehmen oder einen Staat handelt. Das häufige Fremdgehen peruanischer Männer (und Frauen) begründet man gern etwas rassistisch mit dem Latino-Temprament (“el calor”), doch liegt die Ursache im Mangel an Zuneigung und Interesse, versichert mir Imer. Dabei musste ich an meine ehemaligen Arbeitskollegen bei ZINSA denken.

Im Verlauf der Schiffsreise konnte sich eigentlich niemand von uns über unzureichende Ernährung beklagen. Bei drei Malzeiten täglich fühlten wir uns durchaus gemästet. Auch das Problem der Abholzung offenbarte sich uns frühstens bei der Ankunft im Hafen von Iquitos, wo hunderte meter-dicke Baumstämme im Wasser trieben.

Die Zeit verging wie gesagt recht schleppend. In jedem größeren Dorf legten wir an, um Waren ab- und aufzuladen. Kleinere Dörfer, die nur wenige Güter zu tauschen vermochten, schickten kleine Boote zu uns herüber. Nie gab es jedoch richtige Anlegstellen, sondern vielmehr erdige Treppen, die dem saisonalen Wasserstand entsprechend viele Stufen hatten. Die Leute schleppten zumeist gleich zwei große Säcke aufeinmal. Einmal sollte ein Schwein aufs Boot – anstatt es jedoch auf vier Pfoten den Hang hinunter laufen zu lassen, zogen es zwei Männer mit einem Strick am Hinterlauf  den Hang hinunter. Es schrie, wie am Spieß und kam erst zur Ruh’, als es nahe des Dieselmotors angebunden wurde.