Im Folgenden lesen sie in einer Übersetzung aus dem Englischen die Erlebnisschilderungen der Tschechin Anna Hyndráková, welche zunächst im tschechischen Samizdat und später einem Sammelband mit dem Titel “World without human dimensions” im Jahre 1991 vom staatlichen Jüdischen Museum in Prag herausgegeben wurde.
Anna Hyndráková wurde 1943 von Prag nach Theresienstadt und später nach Auschwitz, so wie in die Groß-Rosener KZ-Außenlager Christianstadt, Niesky, Görlitz und Rennersdorf deportiert.
Übersetzung: Niels Seidel
Liebe Alena und lieber Pavel!
Ich glaube ihr wisst alles oder fast alles über mich – wie auch immer, in einem nachgiebigen Moment versprach ich euch einen Brief zu schreiben und dies versuche ich nun. Meine literarischen Ambitionen habe ich vor langer Zeit, bereits als Schulmädchen, aufgegeben. Es gab Zeiten da wollte ich eine Schriftstellerin sein und schrieb Schulaufsätze, nur um ein paar auf Lager zu haben und mit ihnen zu handeln. Seht ihr? Mit diesen Worten habe ich in der Tat begonnen einen Brief zu schreiben. Es wäre mir schwer gefallen dies viel früher zu tun.
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Sie setzten uns auf einen Lastwagen, vertrauten uns der Obacht eines alten Schutzpolizisten an und wir fuhren fort ins Arbeitslager Görlitz. Dieses war ebenfalls eine Nebenstelle des Lagers in Groß-Rosen. Es bestand aus einem kleinen Frauenlager mit ungefähr 300 ungarischen Frauen mit rasierten Köpfen und einem großen Hauptlager der Männer. Wir wurden vom Lagerältesten, Herman Czech – einem deutschen Kriminellen, Sadisten, von kleiner hässlicher Gestalt – empfangen. Er hatte drei abgerichtete, schwarz-weiße Mastiffs und war der Schrecken des ganzen Lagers, obwohl er selbst ein Gefangener war. Der Polizeimann, der uns ins Lager brachte, glaubte, es sei ein großer Scherz, als er sagte, dass wir von einem Transport geflohen seien. Für ihn erschien es, angesichts unseres Zustands, absurd und er dachte, es wäre sehr witzig. Unbefangen und korrekt nahm Czech dies ernst. Er nahm uns entgegen und entschied sofort über unsere Bestrafung: Köpfe rasieren und 25 Hiebe mit der Peitsche, die er für seine Hunde hatte. Wir glaubten, es wäre das Ende, wir würden die Folter womöglich nicht überleben. Sie fingen an, nach einer Bank, einem Barbier (es sollte ein öffentliches Ereignis werden) und jemanden, der die Schläge ausführt, zu suchen. Unsere Ankunft hatte Aufregung verursacht und niemand wollte uns Schaden zufügen, niemand beeilte sich. Wir standen und warteten, bis plötzlich ein Transport ankam, der das Görlitzer Lager während der Evakuierung ihrer eigenen beiden Lager passieren wollte. Es wurde sofort bekanntgegeben und Czech hatte sich darum zu kümmern. Unsere Bestrafung wurde verschoben und er brachte uns ins Frauenlager. Die Baracken dort waren anders als jene, die wir gewohnt waren. In der einen Hälfte waren die Schlafstätten, in der anderen Hälfte Tische und Bänke, die als Esszimmer dienten. Wir mussten vor einem Fenster stehen, so dass sie uns sehen konnten, und auf unsere Bestrafung warten. Niemandem war es gestattet, mit uns zu reden und wir durften uns nicht hinsetzen. Folglich standen wir da ein ganze Weile, aber der Abend kam, am folgenden Tag kam ein neuer Transport und dieses Schema wiederholte sich viele Tage lang. Langsam begannen wir uns in der Baracke zu bewegen. Wir konnten nicht nach draußen gehen, weil wir mit unseren langen Haaren zu auffällig waren. Es war unser großes Glück als ein Transport mit polnischen Frauen ankam – da waren 300 von ihnen und sie hatten ebenfalls langes Haar. Wir wurden in der Menge ununterscheidbar in Bezug auf Erscheinungsbild und Sprache, die Deutschen waren nicht fähig, den Unterschied zwischen der polnischen und tschechischen Sprache herauszuhören. Bevor Czech uns bestrafen wollte, erhielt er auch den Befehl, das Lager zu evakuieren. In dem Durcheinander, das darauf folgte, hatte er uns vollkommen vergessen. Vermutlich half uns auch die Lagerälteste des Frauenlagers, eine Wiener Jüdin namens Stella, die sehr vernünftig und freundlich war. Sie empfand Zuneigung gegenüber uns; wir sprachen deutsch und hatte den selben kulturellen Hintergrund wie sie. Auf einmal nahmen die Symptome von Doris’ TBC bedenklich zu. Sie begann, Blut zu husten. Wir glaubten, dass wir beide TBC hätten, da wir die ganze Zeit zusammen verbrachten, und vor allem auch in der selben Baracke. Jedenfalls konnten wir erst einmal nichts tun, am Leben zu bleiben war immer noch das größere Problem, als gesund zu sein. Trotz alledem fühlten wir uns ausgeruht genug, die vor uns stehenden Märsche ohne Furcht anzutreten. Außerdem war es nicht mehr so eisig kalt. Natürlich gingen wir zu Fuß, es gab nur wenige Wagen mit den Sachen der Deutschen und dem Proviant. Sie nannten uns die „Die drei Tschechen“, seitens der anderen Gefangenen galt uns ein großes Interesse. Sie wussten von uns, doch hatten sie bis dahin noch keine Gelegenheit, mit uns Kontakt aufzunehmen. Sie wussten, dass wir in Auschwitz gewesen und geflohen waren. Die deutschen Gefangenen spürten eine engere Beziehung zu uns als zu den Ungarinnen oder Polinnen, da wir ihre Sprache sprachen und in der Lage waren, mit ihnen zu kommunizieren. Deshalb wunderten wir uns auch nicht über die Aufmerksamkeit, die uns ein Wagenkutscher – ein deutscher Jude aus Köln mit dem Namen Samuel Kessler schenkte. Er war 33 Jahre alt und hatte seine Frau in Auschwitz verloren. Als Kutscher hatte er eine gute Position im Lager, sowie auf dem Weg, und deshalb gab er uns Essen. Manchmal nahm er uns auch auf seinem Wagen mit, wenn sich die Marschkolonne übermäßig weit hinzog. Er gewann bald unser Vertrauen, seine Einstellung gegenüber uns war freundschaftlich und, so schien es mir, väterlich. Er war sehr freundlich. Als wir einmal die Nacht in einer großen Scheune verbrachten, suchte er für uns den besten Platz aus und brachte uns frisches Stroh. Schon bald schliefen wir alle ein und als ich wegnickte, spürte ich, wie er meine Füße mit seinem Mantel bedeckte. Etwas später wachte ich auf. Er streichelte mich und flüsterte mir zu, dass er mich will und auf mich Acht geben würde. Da habe ich bemerkt, dass sein Interesse nicht väterlich war. Ich brachte ihm nicht viel Widerstand entgegen, ich hatte weder die Kraft, noch den Willen. Es schien mir, dass wer immer sich mir gegenüber nett verhielt, würde früher oder später mit mir schlafen wollen, so dass ich sowieso keinen Erfolg hätte, es abzuwehren. Es war wie eine Fortsetzung des Schreckens in Niesky. Von da an versuchte er bei jeder Gelegenheit, bei mir zu sein; manchmal konnte ich ihm entkommen, manchmal nicht. Ich war verzweifelt und blind. Ich habe nicht verstanden, dass er mich vielleicht wirklich liebt und sich nicht nur im Lager um mich kümmern würde, sondern auch nach dem Krieg. Mir schien es, als hätte er in mir jemanden gefunden, der den Platz seiner toten Frau einnahm. Es tat mir für ihn leid, warum hat er sich anstelle dessen nicht in Eva verliebt, sie hätte es nicht so sehr gekümmert, dachte ich mir. Warum, sie hat sogar für ein Stück Margarine mit jemandem geschlafen. Er hat uns dreien sehr geholfen. Er hatte einen Einfluss auf mich, der mich außer Stande brachte, ihm zu entrinnen. Die Anderen im Lager waren sich bewusst, was er für Gefühle für mich hegte und respektierten dies. Niemand schaute mich misstrauisch an. Einmal schliefen wir in zwei aneinander liegenden Ställen, Männer und Frauen getrennt. Wir verbrachten dort mehrere Nächte, wir waren mit Läusen befallen und wir waren hungrig, der Dung war nur mit einer dünnen Schicht Stroh bedeckt. Er überredete mich, im Schutz der Dunkelheit zu ihm, in den Stall der Männer, zu kommen. Auf meinem Weg zurück wurde ich von einem deutschen Wachmann entdeckt. Er schrieb sich meine Nummer auf und sagte, dass er mich beim Morgenappell melden würde. Ich schickte eine Nachricht an Kessler und erzählte ihm, was vorgefallen war und auch, dass ich das wiederholen würde, was ich dem Wachmann gesagt hatte. Entgegen allen Erwartungen verhielt sich der Aufseher sehr nett beim Appell. Ich wiederholte: „Ich habe geschlafen und lief in die falsche Richtung zur Toilette“ immer und immer wieder. Sie wussten, dass ich eine der drei Tschechinnen bin und sagten bloß: „ So, du bist die eine, mit der Kessler schläft. Ich dachte es sei die Dicke“ (Eva). Dann ließen sie mich gehen; Ich kümmerte mich nicht mehr darum, den einen oder den anderen Weg zu gehen. Als wir sechs Wochen unterwegs waren, kamen wir zurück nach Görlitz, wir sind also im Kreis gelaufen. Die Russen hatten offenbar einen anderen Weg eingeschlagen. Alles wurde wieder, wie es war. Wir gingen Schützengräben ausheben, Sand – es nannte sich „Sandschippen“. Die Arbeit war furchtbar hart und es gab viel davon, aber andererseits war kein unnützer Kommandierender in der Nähe. Doris konnte nicht länger schwer arbeiten und Stella teilte sie, um ihr zu helfen, dafür ein, die Wohnung der Lagerangestellten zu reinigen. Ich konnte da nicht hin, weil ich die Krätze und Läuse hatte. Doris hatte das Problem nicht, wahrscheinlich wegen ihrer TBC. Dann und wann sandte uns Kessler Essen und mir Liebesbriefe. Wir sahen uns nur selten; wenn, dann auf der Krankenliege, aber ich habe es nicht vermisst. Er schickte mir auch ein Geschenk, eine Kette aus Draht und dünnen Foliestreifen mit meiner Transportnummer und meinem Namen eingeritzt. Am 5. Mai 1945 ging ich zum letzten Mal zur Arbeit, ohne natürlich zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde. Stella stand am Tor und rief verwundert: „Du gehst auch, Anka?“ und ich antwortete „Warum nicht“. Erst später erfuhren wir, dass Hitler schon tot war. Zu dieser Zeit arbeiteten wir auf dem Flugplatz, es war weit zu laufen bis dort hin und wir waren fast angekommen, als sie uns zurückschickten. Es lag in der Luft, das irgend etwas vor sich ging. Da waren keine Wachleute in den Wachtürmen und auch nicht am Tor. Im Lager herrschte das schiere Chaos. Im Männerlager waren sie bereits ins Vorratslager eingebrochen und ein paar Tschechen (da waren drei) hatten kleine runde Käsekuchen für uns aufgehoben. Nichts anderes war übrig geblieben. Wir fingen an, vor Freude herum zu rennen, es war vorbei, doch es war noch nicht vorbei, weil die Faschisten immer noch da waren. Auf einmal kam der Lagerkommandant im Lager an, brachte einen Tisch auf den Appellplatz und pfiff mit seiner Pfeife zum Appell. Da waren Schreie „Alles raus“ (das heißt raus aus dem Block), aber mein Mantel war drinnen und ich wollte nicht ohne ihn sein, falls wir irgendwo anders hingebracht wurden. Deshalb lief ich zurück, doch der Lagerkommandant sah mich, eilte hinein zu mir, schlug mich fest und schrie: „Erwartet man von mir euch alle einzeln rauszuholen?“ Dies war der härteste Schlag, den ich je in meinem Leben bekommen habe und auch der letzte, zumindest hoffe ich das. Lange Zeit danach war ich auf einem Ohr taub. Er jagte uns heraus zu diesem Appell, kletterte auf diesen Tisch und begann seine Rede mit den Worten: „Ihr wisst, wir haben euch nie geschlagen …“ und dann sagte er sinngemäß, dass sie uns Essen geben würden und uns zu den Amerikanern bringen. Dass die Russen, wenn wir in ihre Hände fielen,uns tyrannisieren, uns vergewaltigen würden und so weiter. Sie selbst wollten zu den Amerikanern gelangen und sich in unserer Mitte verstecken. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wir wollten nicht mit ihnen gehen und hatten Angst zu bleiben, da die Deutschen in ihrer Vorsicht manchmal alle Spuren beseitigen, Lager abbrennen und morden. Dann tauchte Kessler mit einem fertigen Plan auf. Wir wollten mit ihm und einer Gruppe anderer Gefangener erst zusammen mit den Deutschen gehen, so das wir aus dem Lager kommen und uns dann nach Prag absetzen, und danach dahin gehen, wohin auch immer jeder gehen musste oder gehen mochte. Im Büro beschaffte er uns eine Erklärung, die besagte, dass wir Gefangene dieses Lagers waren, so hatte jeder von uns ein Dokument. Uns hat der Plan gefallen. Jedem von uns wurde ein Laib Brot (!) und ein Würfel Margarine gegeben und los ging es. Kessler wieder als Kutscher auf einem Wagen, gezogen von einem einzigen Pferd und beladen mit dem Proviant der Deutschen – Brot, Margarine, Marmelade. Nachts weckte er uns auf und wir fuhren allein los; wir zu zwölft. Wir drei, Stella, Kessler als die Seele unsere Reise, eine ungarische Frau und ein Mann aus Frankfurt – an die anderen kann ich mich nicht erinnern. Auch ein Pferd und Wagen mit SS-Proviant nahmen wir mit. Auf dem Weg spannten wir noch ein anderes Pferd ein (wir hatten es gefunden), dann bekamen wir einen zweiten Wagen und waren somit in der Lage, uns ins zwei Gruppen aufzuteilen. Gelegentlich schaffte es das Pferd nicht und wir mussten schieben, manchmal schaffte es auch Doris nicht und so setzten wir sie auf den Wagen. Die Nacht vom 8. Mai war erleuchtet von Signalraketen, als der Waffenstillstand unterzeichnet wurde. Die deutsche Armee stieß zu uns – vor den Russen auf die amerikanische Seite fliehend. Die Hauptstraßen waren verstopft und wir konnten deshalb nur die Nebenstraßen befahren. In einer Stadt trafen wir auf ein paar Deutsche aus unserem Lager – das war ein furchtbarer Augenblick. Sie hatten nichts besseres tun, als laut auszusprechen, wer wir waren, so dass uns die Anderen in Stücke reißen würden, da wir uns als Deutsche verkleidetet hatten. Sie ließen uns nicht gewähren, das einzige was sie wollten, war die Kleidung mit den Männern zu tauschen – Zivilkleidung gegen Uniformen. Keine schlechte Idee! Wir redeten uns da raus, indem wir sagten, wir hätten Läuse und vielleicht auch Thyphus. Dann gingen wir weiter auf unserem Weg.