Holocaust als ein Vehikel für Menschenrechte

Bei öffentlichen Veranstaltungen, die sich der Erinnerung und Aufarbeitung der NS-Verbechen widmen, muss ich immer wieder feststellen, wie wenige junge Leute (< 30 Jahre) sich für das Thema interessieren. Dies ist zunächst eine Feststellung, ohne jede Wertung und ohne einen Vergleich.
Wenn ich mich für einen Wissensbereich interessiere, dann nehme ich daran Anteil und verfolge die Geschehnisse aufmerksam.
So ein Interesse ist immer auch mit der Absicht des Lernens verbunden, denn schließlich möchte man etwas neues erfahren, verstehen oder ausüben.

Überlegt man nun, warum sich jemand mit der Vernichtung der europäischen Juden, den NS Verbrechen im Allgemeinen sowie dem Thema Antisemitismus oder Fremdenfeindlichkeit auseinandersetzen sollte, dann findet man recht schnell zu einem gemeinsamen Nenner. Es geht im Grunde um die basalen Menschenrechte: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit von Unterdrückung, das Recht auf freie Wahl des Aufenthalts-, Wohn- und Arbeitsortes, das Recht auf Arbeit, das recht auf Mitbestimmung usw.

Die Menschenrechte stellen das hier ein übergeordnete und für viele vielleicht etwas verdecktes Ziel dieses Lernprozesses dar. Doch was versteht man hier unter einem Ziel? Worauf zielt die Beschäftigung mit einem Thema ab? Möchte ich mir schlicht Fakten aneignen, um sie mehr oder weniger präzise wiedergeben zu können? Also vielleicht mein Allgemeinwissen erweitern? Oder gehe ich noch einen Schritt weiter und versuche die Zusammenhänge der Fakten zu verstehen, Kausalitäten und Korrelationen zu finden? Wenn ich das Gelernte anwenden möchte, um beispielsweise jemanden das Thema zu erklären, dann muss ich das Wissen anwenden können. Formen der Anwendung können vielfältig sein. Beispielsweise kann ich versuchen ein Konzept in die Praxis zu überführen, ich kann eine Theorie in einem Experiment erproben oder ich kann versuchen mein Wissen anderen zu vermitteln. Diese drei Stufen (es gibt noch mehr) helfen, Lernziele zu ordnen.

Doch kommen wir nun zurück zu den Menschenrechten.
Ich wage die These, dass sich mehr Menschen für die Wahrung der Menschenrechte interessieren, als für die Geschehnisse des Dritten Reich und Zweiten Weltkrieg. Das erscheint auf den ersten Blick plausibel, ist aber erklärungsbedürftig. Ein Grund dafür sind
– die von Amnesty International regelmäßig konstatierten Menschenrechtsverletzungen weltweit
– die Verfehlung der Milleniumsentwicklunsgziele, d.h. die Beseitigung von Armut und Hunger sowie die Gewährleistung von Grundschulbildung.

Alle genannten Gründe adressieren aktuelle Probleme und zumeist keine lokalen Probleme – zumindest nicht für uns. Dies unterscheidet sie vom Holocaust, der zwar jeder Orts (in Europa) Auswirkungen zeigte (Deportation der deutschen Juden, KZ-Zwangsarbeit, Todesmärsche), jedoch zeitlich schon mehr als 70 Jahren zurückliegt. Betrachtet man den persönliche Beziehungen zu den Betroffenen/den Opfer und die individuelle Mitschuld am Geschehenen, lassen sich ebenso diametrale Unterschiede feststellen: Beziehungen zu Zeitzeugen und Holocaustüberlebende werden mehr und mehr zur Ausnahme, da nur noch wenige ehemalige Zeitzeugen leben. Persönliche Beziehungen zu Menschen in nicht-entwickelten Ländern bzw. den ärmsten Menschen der Welt, die z.B. weniger als 1 oder 2 Dollar pro Tag verdienen (Armutsdefinition der Weltbank), sind weniger selten. Durch Reisen, weltweite Kommunikation und nicht zuletzt durch die gegenwärtigen Flüchtlingsströme sind uns diese Menschen nicht mehr so fremd wie vor 25 Jahren, als wir das Internet, Billigflieger und Frontex noch nicht kannten. Eine persönliche Schuld am Holocaust ist für die nach 1931 geborenen schwer zu begründen. Unsere persönliche Schuld bzw. Mitschuld für die Lebenssituation eines Großteils der Weltbevölkerung steht jedoch außer Frage, denn wir haben abgesehen von unserem Lebenswandel (z.B. Rohstoffverbrauch, Umweltverschmutzung), auch Einfluss auf die Politik (Handelsabkommen, Zölle, etc.) und somit auch auf die Wirtschaft (Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung, etc.). In einer Demokratie kann man das nicht leugnen.

Halten wir also als Thesen fest, dass eine zeitliche Nähe, persönliche Sichtbarkeit und Mitschuld an der Verursachung von Problemen das Interesse an einem Thema steigern können. Für Themen wie den Holocaust oder die NS-Zeit sind diese Bedingungen nicht mehr erfüllt. Die individuell empfundene Relevanz des Themas ist nur noch schwer vermittelbar. Eine Studie der Berthelsmann Stiftung vom Januar 2014 besagt, dass 58% der 1000 befragten Deutschen einen Schlussstrich unter den Holocaust befürworten. Statt dessen lässt sich die Relevanz des allgemeineren Lernziels bzgl. der universellen Menschenrechte viel besser begründen und nachvollziehen. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch nicht, die Geschichte der Judenverfolgung im NS-Staat ad acta zu legen. Vielmehr sollten wir uns darin üben, Gemeinsamkeiten in den Ursachen, Entwicklungen und Auswirkungen zu identifizieren. Anstatt eines Vergleichs zwischen dem singulären Völkermord und den weltweiten Menschenrechtsverletzungen können wir trotz veränderten Rahmenbedingungen gewissen Muster erkennen. Die Geschichte wiederholt sich, nur der Kontext ändert sich. Gelingen kann dies mit Hilfe der von Harald Welzer ausgewiesenen Erkenntnis, wozu Menschen im Stande sind – im Guten wie im Schlechten. Wir können große Leistungen vollbringen (z.B. Erfindungen, Bauwerke, Organisationen) und Liebe gegenüber unseren Nächsten zeigen, doch wir Menschen sind ebenso im Stande destruktiv zu wirken (z.B. durch Kriege) und würdiges Menschenleben in ungeheurem Ausmaß zu erschweren – bis hin zur Auslöschung von Völkern. Diese Fähigkeiten des Menschen lassen sich in fast allen Epochen der Menschheitsgeschichte belegen und miteinander in Beziehung setzen, ganz gleich welche technologischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wir im Einzelnen vorfinden. Der Holocaust ist dabei ein besonderes Vehikel, was uns helfen kann Menschenrechtsprobleme zu erkennen, sie anzusprechen und ihre Wahrung weltweit durchzusetzen. Pädagogen und Multiplikatoren sind in diesem Zusammenhang gefordert, ihre lokal beschränkten Betrachtungsweisen zu überwinden und dafür den kritischen Blick für globale Herausforderungen im Raumschiff Erde zu schärfen.

Der etwas andere Sonntagsausflug

Wie ich mir schon dachte, war die Ortsangabe der Botschaft wieder mal sehr ungenau. Das Gefängnis befindet sich nicht in Canete (höchstens im Landkreis Canete), sondern zehn Kilometer entfernt, in der Stadt Imperial; oder ganz genau in Nuevo Imperial (Neu Imperial). Diesmal konnte ich günstig mit zwei muffligen Colectivos (Kleinbusse) dort hin fahren. Ja sogar ein Feldweg führte zum Ziel. Was in Huaral der Wüstensand, waren in Imperial die Baumwoll- und Maisfelder am Wegesrand. Statt beißender Kötter, gab es leuchtend rote Vögelchen zu beobachten. Einzig der verhangene Himmel und die Bauweise des Gefängnisses erinnerten an Huaral. Die Wärter waren zwar neugierig, doch lang nicht so skeptisch und hämisch wie in Huaral. Nach langem Anstehen bei der Anmeldung, kam ich irgendwann ins Innere der Anstalt. Es dauerte auch eine Weile bis ich mit einem Wärter den Pavillon herausgefunden hatte, in dem Silvio nun lebt: Numero 5. Also dort, wo auch die meisten anderen Ausländer sind. Sobald ich drin war, sammelte sich, ähnlich wie in Huaral, eine Traube Gefangener um mich, um mit Kuchen, Bonbons und anderem Kram Geld zu verdienen oder zu erbetteln. Auch wenn ich mich nicht unbdeingt freundlich aus der Affäre ziehen konnte, war froh überhaupt in Ruhe gelassen zu werden. Ein paar Andere glaubten mich zu Silvio führen zu können. Zunächst war ich skeptisch, als ich einen langen, dunklen Zellengang durchlaufen sollte und einer mir andauernd die zwei mitgebrachten Beutel abnehmen wollte. Schon wieder musste ich harsch widersprechen. Dann kam ein Typ, der aus der Ferne wie Silvio aussah – ich ging also doch den Gang hinein, doch er war es nicht. Akzentfrei begrüßte mich ein Schwede auf englisch und führte mich zu Silvios Zelle am Ende des Ganges. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet und sinnierte auf seinem Bett. Zum Lesen ist es dort zu dunkel. Die Fenster auf dem Gang haben lamellenartige Schlitze, so dass die Sonne praktisch nur einmal am Tag für ein paar Minuten direkt hineinscheinen kann. Angesichts des kalten Bergwindes und der brütenden Sommerhitze ist diese Anbringung gar nicht so verkehrt. Silvio springt von einem der beiden oberen Betten herunten und gibt mir strahlend die Hand. Er freut sich, meine ich. Sein Zellengenosse macht sogleich sein Bett frei, damit wir uns hinsetzen können. Auf die Frage, wie’s ihm geht, antwortet er: “Gut”. Er erzählte mir, dass er und fast alle anderen Ausländer aus Huaral verlegt wurden. Einige ausländische Botschaften hatten dies schon lange gefordert, um es den Betroffen einfacher zu machen. Am letzten oder vorletzten Donnerstag kamen also sechs Wärter in Silvios Pavillon und riefen alle Extranjeros (Ausländer) zusammen. In großer Eile sollten sie ihre Habe zusammenraffen. Abgesehen von seiner Matratze und ein paar Sachen, die noch auf der Wäscheleine hingen (seine einzige Jeans!!), konnte Silvio alles mitnehmen. Also auch seine hochdosierten Vitamintabletten, die er erst kürzlich aus Deutschland erhalten hatte. Die Matratze fehlt ihm indes schon, denn die sieben Zentimeter starke Schaumstoffunterlage isoliert nicht sonderlich gegenüber der Betonplatte, die gemeinhin als Bett bezeichnet wird. Derer gibt es übrigens vier in Silvios Zelle. Ja, er hat jetzt eine Zelle und muss nicht mehr auf dem Gang schlafen. Das freut ihn natürlich. Auch sein Zellengenossen konnte er sich aussuchen. Alle samt sind keine Peruaner und anständige, drogenfreie Leute, wie er sagt. In der Zelle wird nicht geraucht betont er hinzu. Für ehemalige Traficos (Schmuggler), denke ich, ist das ein mächtiger Gesinnungswandel. Die Wände sind hellblau gestrichen. In einer Ecke gibt es klägliche Ansätze einer Höhlenmalerei – und es ist wirklich finster, wie in einer Höhle; gerade auch weil die Gitter mit Stoff behangen sind, um wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu schaffen. Zwischen den beiden Doppelbetten ist eine Art Duschkabine aus Beton als Toilette konzipiert – ohne Wasser natürlich. Der einzige Trakt mit fließend Wasser kostet 300$ Eintritt und monatlich 100$, um sich mit sechs anderen eine Zelle teilen zu können. Silvio braucht das nicht, denn mit seinen Kollegen wollen sie nun fest anpacken und sehen, dass etwas vorwärts geht. Zunächst wollen sie ihre Zelle renovieren und gründlich säubern. Sobald die Kochuntensilien seines Zellengenossen aus Huaral eingetroffen sind, wollen sie ein kleines Restaurant eröffnen. Unter den Gefangenen sind ein gutes Dutzend verschiedene Nationen und somit auch mindestens so viele verschiedene Weisen zu kochen. Andere Gefangene haben bereits einen kleinen Laden aufgemacht und verkaufen dort ein wenig Essen. Eine gute Möglichkeit Ablenkung und Beschäftigung zu finden, meint Silvioo. Der Pavillon hat auch eine Nähstube, doch wer will da schon hin? Statt dessen überlegt Silvio, ob es sich nicht vielleicht auch lohnen würde, eine kleine Bibliothek aufzumachen. Lesen ist alle mal ein besserer Zeitvertreib als Pasta zu rauschen (Gemisch aus Mariuana und Kokain). Er freute sich über die “Die Zeit”, ein paar Filme und ein weiteres Sachbuch, sowie ein paar Apfelsinen und natürliche Antibiotika (Ingwer, Knoblaub, Zwiebeln). Meine mitgebrachten Lucmas, Avocados und Kiwis durfte ich nicht mit hinein nehmen. Wir sprachen noch eine Weile über die Umstände, die ihn in diese Situation gebrachten hatten und wie ihm nun geholfen werden könnte. Ich werde mich nun doch mal an seinen untätigen Anwalt wenden, damit dieser endlich mal das tut, wo für er bezahlt wurde. Die Zeit für Gespräche verging viel zu schnell und gegen fünf Uhr war die Besuchszeit schon beendet. Ich sagte ihm zum Abschluss, dass ich gespannt bin, was ich in vier Wochen auf der Speisekarte lesen kann und versprach Hunger mitzubringen.