Adventskalender zur Gestaltung kooperativer Systeme

An der FernUniversität in Hagen gebe ich in diesem Herbst den Kurs Gestaltung kooperativer Systeme. Im knapp 300 Seiten starken Kurstext erhalten die Teilnehmer einen Einblick in die technischen, sozio-technischen und gestalterischen Aspekte von Systemen, die virtuelle Gemeinschaften, soziale Netzwerken, kollaborativen Arbeits- und Lernumgebungen oder Mehrbenutzeranwendungen zu Grunde liegen. Dabei unternehmen wir einige Streifzüge in die Philosophie, Sozialpsychologie und Soziologie mit Abstechern in die Biologie, Physik und Kulturwissenschaften. Ein wesentliches Lernziel ist es jedoch die Fähigkeit zur Gestaltung und Entwicklung von kooperativen Systemen zu erlangen. Dafür Bedarf es vielfältiger methodischer Kenntnisse und Fertigkeiten, die wir in den Übungen einüben. Als Ergänzung zu den Übungen und Kursmaterialien habe ich mir deshalb zum Jahresausklang eine etwas andere Darbietung für weiterführende Lernressourcen überlegt: Im Adventskalender der Methoden zur Gestaltung kooperativer Systeme können die Lernenden (und alle anderen auch) jeden Tag ein Türchen öffnen und sich mit einem Thema in Form von Videos, Tutorien oder wissenschaftlichen Publikationen auseinandersetzen.

Siehe https://nise.github.io/cscw-calendar/

Wikipedia Academy in Eigenregie

Die auf der letzten Wikimania (2011) vorgestellte Initiative der Wikipedia Academy zielt darauf, Studierende Wikipedia-Artikel verfassen zu lassen. Die aus Haifa/Israel mitgebrachte Idee hielt ich für nachahmenswert. Eine erste Gelegenheit zur Erprobung des Lehrkonzepts hat sich im Rahmen der Lehrveranstaltung “Lehren und Lernen mit Neuen Medien” ergeben. Teilnehmende waren Doktoranden aus den Bereichen Wirtschaftswissenschaft, Informatik und Maschinenbau des Internationalen Hochschulinstitut Zittau. Die Veranstaltung lief über drei Tage und wurde durch ein Medienpraktikum komplettiert.
Eine Aufgabe im Praktikum bestand darin, einen ungenügenden oder noch nicht vorhandenen Artikel in der Wikipedia zu identifizieren und diesen dann zu verbessern bzw. ihn überhaupt erst einmal zu schreiben. Thematisch habe ich das Themenspektrum auf Lernen mit Neue Medien eingegrenzt.

Meine anfängliche Vermutung, Artikel aus diesem Themenbereich wären besonders fundiert, hatte sich bereits in der Vorbereitung des Seminars zerschlagen. Das Gegenteil war der Fall. In Bezug auf die pädagogischen Psychologie sowie Bildungstechnologien mangelte es an basalen Begriffen (z.B. Kompetenz) und verbreiteten Technologien (hier in Sachsen z.B: OPAL als Lernmanagementsystem).
Sechs der 15 Seminarteilnehmer fügten der Enzyklopädie einen neuen Artikel hinzu, wobei es oftmals eine englischsprache Vorlage gab. Alle übrigen machten sich an die nicht minder schwere Aufgabe, einen vorhandenen Artikel auf seine Schwächen hin zu analysieren und strukturell sowie inhaltlich zu verbessern.
Als besonders gelungene Artikel möchte ich folgende Beiträge hervorheben:

Als besonders beliebt erwiesen sich unter den Teilnehmer Artikel zu Service-Produkten im E-Learning (Khan Academy, Connexion, iTunes U, OpenLearn, OpenCoursWare …). Auch wenn diese Dienste während der Veranstaltung eine gewisse Beachtung fanden, hätte ich eine geringere Resonanz erwartet. Immerhin bewegen sich die Artikel oft haarscharf an der Grenze zur Werbung für die entsprechenden Angebote. Prinzipiell muss man sich fragen, in wie man man sie als relevant ansehen kann.

Als Herausforderung im Rahmen des Themengebietes begriff ich neben den drei bereits erwähnten, die Artikel über das Peer Assessment und Kognitivismus.

In den Ergebnissen traten dann auch so manche Defizite im Umgang mit der Wikipedia und seiner Gemeinschaft zu Tage. Zum einen betraf dies die Einbindung von anderen Medien (Bilder, Videos, …). Angesichts der text-dominierten Wissensgesellschaft war dies zu erwarten. Die mangelnde Repräsentanz von Videos ist in der Wikipedia seit langem bekannt. Betreffs der Gemeinschaft der Wikipedianer (einschließlich ihrer Bots) sorgten die Schutzvorrichtungen vor Vandalismus für die meisten Irritationen unter den Teilnehmern. So warteten neue Artikel wochenlang auf eine Markierung durch einen Admin. Auch die Vertrauens-Mechanismen, etwa bei der Verschiebung von Artikel durch neue Benutzer, behinderte die Arbeit. Fast Gänzlich ungenutzt blieben die Diskussionsseiten – leider in einem Falls auch dann, als eine halber Beitrag von einem anderen Wikipedianer gelöscht wurde. Als betreuender Dozent habe ich mich in solchen Fällen weitestgehend zurückgehalten, um keine Verzerrungen gegenüber den realen Konflikten und Problemen zu bewirken. Einzig ein Nagtivfeedback im Sinner der wikipedianischen Diskussionskultur hinterließ ich auf den Diskussionsseiten. Lob und Wertschätzung floßen auf anderen Kanälen.

Die von der Wikipedia empfohlene Vorgehensweise konnte ich nur bedingt anwenden:

  1. Am­bas­sa­dor Training => die Trainings konnten nicht leider nicht als virtuelle Lerhveranstaltungen angeboten werden
  2. Pla­nung (Am­bas­sa­dor + Dozent) => war aus zeitgründen unmöglich
  3. Ein­füh­rung in der Lehr­ver­an­stal­tung (Ge­brauch der Wi­ki­pe­dia / best practice) => 15 min + Selbststudium
  4. Ana­lyse exis­tie­ren­der Wikipedia-Artikel zur Iden­ti­fi­ka­tion feh­len­der oder un­voll­stän­di­ger Informationen => Mitteilung per E-Mail
  5. Re­se­arch: Literaturrecherche => eigenständig
  6. Schrei­ben: ein­zeln oder als Gruppe meh­re­rer Studierender => binnen eines Monats
  7. Eva­lua­tion: ver­fas­sen eine re­flek­ti­ven Ar­ti­kel buw. ei­ner Prä­sen­ta­tion über den Ent­ste­hungs­pro­zes­ses des Wikipedia-Artikels in der Lehrveranstaltung. => in der Blockveranstaltung war dies im Nachhinein nicht möglich

Als Fazit kann ich festhalten, dass sich die Erprobung der Wikipedia Academy auch in Eigenregie lohnt. Der Gewinn an Erfahrungen mit der Wikipedia dürfte auf beiden Seiten nicht unerheblich gewesen sein. Meine Hoffnung besteht nun darin, dass die Teilnehmer, aber auch einige Kollegen dieses Lehrszenario in ihrer eigenen Lehre anwenden und somit einen kleinen Beitrag für die Wissensallmende leisten, anstatt wie bisher Seminararbeiten für den Papierkorb oder das persönliche Datenarchive schreiben zu lassen. In Hinblick auf die erzielte Qualität besteht sicher noch keine Vergleichbarkeit mit wissenschaftlichen Enzyklopädien. Doch immerhin eröffnen die in diesem Seminar bearbeiteten Artikel die Chance künftigen noch weiter verbessert zu werden.

Apple’ism als Forschungsgegenstand?

Spiegel Online rechnet gerade in einem Artikel mit Apple’s nachlässig gestalteten Massenprodukten ab. Die einst den als Exoten verschrieenen Designern vergönnten Gerätschaften, rückten nach der Umstellung auf Intel-Chipsätze in den Fokus von ITlern und sonstigen Geeks, die einfach nach einem bequemen Interface für Unix suchten. Mittlerweile gelten die Apfelschalen als Statussymbol der Mittelschicht (außer vielleicht im (armen) Sachsen).

Auf Fachtagungen wundere ich mich, warum relativ triviale Anwendungen nur deshalb als Novum angepriesen werden, weil sie auf dem iPhone/Pad laufen. Ganz Studien werden aufgezogen, um die Benutzung von Apple Produkten zu untersuchen. Zu alle dem treiben die Forscher noch ihre Studenten dem Apple-System in die Hände, in dem sie App’s im Rahmen der Lehre entwickeln lassen. Ich frage mich, ob mal jemand die Auswirkungen des Apple’ism auf Forschung und Lehre untersucht hat.

Hier eine kurze Recherche nach Publikationen seit 2010 mit Apple-Schlüsselworten bei ACM:
* iPhone: 1726
* iPad: 486
* iPod: 629

Wikimania 2011: Wikipedia Academy

Frank Schulenburg berichtete heute über den Erfolg der Wikipedia Academy – einem Programm, dass Hochschullehrer dazu anregt und begleitet, erstklassige Wikipedia-Artikel durch Studierende verfassen zu lassen.
Insgesamt 32 Universitäten und 800 Studenten mündeten in 5800 Wiki-Seiten. Namhafte Hochschulen, wie Harvard und Illinois gaben dem Projekt der Wikimedia Foundation den nötigen Anschub. Schulenburg betonte insbesondere motivierende Aspekte für Studierende. Anstatt Seminararbeiten für eine einmalige Begutachtung zu verfassen, leisten sie im Idealfall einen _nachhaltigen_Beitrag_ zur größten Bibliothek der Welt. Ihre Beitrage sind zugänglich und werden sicher nicht nur von einer Person gelesen. In einem Fall, so Schulenburg, erhielt ein Beitrag eines Studenten über die Demokratische Partei in Ägypten 43.000 Aufrufe. Angesichts der Tatsache, dass selbst high rated Journals nicht einmal annähernd so viele Leser finden, ist der sinnstiftende Effekt eines solchen Lernszenarios nicht von der Hand zu weisen.

Kern der Wikipedia Academy Programms sind Campus Ambassadors, d.h. geschulte Ansprechpartner vor Ort, die sowohl Lernende, als auch Lehrende schulen, unterstützend und beratend zur Seite stehen. Jedem Campus Ambassador steht eine Online Ambassador gegenüber.

Die Vorgehensweise wird in sieben Schritten vollzogen:

  1. Ambassador Training
  2. Planung (Ambassador + Dozent)
  3. Einführung in der Lehrveranstaltung (Gebrauch der Wikipedia / best practice)
  4. Analyse existierender Wikipedia-Artikel zur Identifikation fehlender oder unvollständiger Informationen
  5. Research: Literaturrecherche
  6. Schreiben: einzeln oder als Gruppe mehrerer Studierender
  7. Evaluation: verfassen eine reflektiven Artikel buw. einer Präsentation über den Entstehungsprozesses des Wikipedia-Artikels in der Lehrveranstaltung.

Aktuell darf man noch gespannt sein, wie die Wikimedia das angekündigte Education Portal gestalten wird. Online Schulungsmaterialien, Syllabus und Hilfe beim Finden von Wikipedia Administratoren / Stewarts soll noch bis Ende 2011 inbegriffen sein.

In der Diskussion stellte sich aber auch heraus, dass dieses Konzept auch ohne offizielle Schirmherrschaft der Wikimedia funktioniert. Nicht wenige Studenten füttern Wikipedia bereits mit ihren Seminar- und Abschlussarbeiten. Dennoch ist es wichtig, den Kontakt zu den Stewarts und Administratoren zu pflegen, damit Konflikte mit anderen Autoren oder gar Trollen vermieden werden können.

Am IHI Zittau könnten Studierenden angeregt durch Dozenten und unterstützt von Ambassadors gleich mehrere Spracheditionen der Wikipedia bedienen.