Laguna 69

Nach einem kurzen Stelldichein in Lima fuhr ich eines Samstags direkt nach Huaraz, dem wahrscheinlich komfortabelsten Ausgangspunkt für Wanderungen in der peruanischen Schweiz, wie das Gebirge (scherzhaft?) bezeichnet wird. Das Busunternehmen meiner Wahl war abermals Cruz del Sur. Ich erwähne dies nicht des hohen Sicherheitsstandard wegen, sondern weil ich ausgerechnet bei meinem letzten Trip das Glück hatte, als Gewinner des Bingo-Spiels hervozugehen und somit das Ticket für die Rückreise geschenkt bekam. Ideal – erst recht, weil es das erste mal sein sollte, dass ich den selben Weg zurück fahren wollte, den ich gekommen war. Neben mir saß Annie, ihr fehlte auch nur eine Ziffer zum BINGO. Genau wie ich, war sie so schon mehre Monate mit Peru und den Peruanern beschäftigt, so dass wir uns eine Menge witzige Anekdoten zu erzählen hatten. Zum erstenmal sprach ich mit jemanden aus einem (teils) englischsprachigen Land ausschließlich spanisch. Annie kam zwar aus dem französischsprachigen Teil Kanadas, hatte jedoch trotz ihrer Anstellung als Englischlehrerin, von ihrer Sprache abgelassen. Wir trafen uns abends zum Essen und auf ein paar Biere plus einer Flasche Pisco; verdünnt mit Sprite. Die legendäre Hit-Band ‘Grupo 5’ schallte im Club und erweckte schlafende Ohrwürmer zum Tanzen. Annie kauft sich gleich am nächsten Tag die Mega-Grupo-5-CD mit schlappen 168 Songs.

Eine verarmte Greisin, die hier in der Markthalle von Huaraz um etwas Essen fleht.

Ein katholische Sonntagsprozession, die sich allerdings erst in Bewegung setzte, als alle männlichen Teilnehmer, einschließlich Kreuzträger, sturztrunken waren.

Abgesehen davon war es die Alpaca-Strickware, die Annie zur Reise in die Berge bewegt hatte. Statt der Wolle suchte ich nach Verausgabung körperlicherseits. Der Genuss dessen erfordert jedoch immer ein paar Tage der Aklimatisierung, denn Huaraz liegt auf guten 3000 Metern Höhe und ist durch nächtliche Kälte und extreme UV-Strahlung kein Ponyhof. Den ersten Tag verbrachten wir deshalb in der Kneipe (dies wirkt der Gewöhnung entgegen), den zweiten wollte ich schon mal einen Aufstieg wagen. Die Lagune mit dem klangvollen Namen 69 erkor ich zum Ziel meiner ersten Wanderung in der Cordillera Blanca. Der Alpenvereinein verpasste diesem entlegenen Gletschersee kurzer Hand eine Nummer, anstatt die kompliziert auszusprechenden landessprachlichen Bezeichnung zu verwenden. Ein guter Name wirkt sich entscheidend auf den Anklang bei Touristen aus. So kam es, dass drei stramme irische Mädels in meinem Hostel (Churup) ebenfalls den See Nr. 69 anstrebten. In aller Frühe fuhren wir mit Colectivo und Taxi etwa drei Kilometer ins Innere des Nationalparks. Zunächst wanderten wir gemeinsam entlang eines kleinen Flusses, an den darauffolgenden leichten Anstiegen lief ich einvernehmlich, stetigen Schrittes vorweg. Nach insgesamt zwei Stunden lag ein kleinerer Bergsee, ein Hochplateau und atemraubende Zick-Zack-Steigungen hinter mir.

Das Plateau mit Kühen und grauen Vögeln.

Die 4000m-Marke hatte ich um gut 200 Meter überschritten und stand vor einem gewaltigen Gletschermassiv, an dessen Fuß sich die ersehnte Lagune befand. Je nach Blickwinkel, Lichtverhältnis und Wetter wechselt sie die Farben von hellgrau über grüngrau und türkisschwarz bis hin zu dem, was die Farblehre als Coboltblau definiert. Nicht ohne Grund, denn am Boden des Sees befinden sich neben weißem Granit auch erhebliche Cobaltvorkommen.

Ich grüßte die schwarz-weisse Ente (Blesshuhn?) auf dem Teich, schoß einige Fotos und rannte zurück. Beim Rennen bergab beansprucht man seine Knie am wenigsten und bekommt leichte Adrenalinkicks, wie beim Downhill mit dem Mountainbike.

Ready to run down?

Die Landschaft erinnerte mich irgendwie ans Retezat-Gebirge in den rumänischen Südkarpaten. Mir begegneten viele Israelis, die angesichts der fortgeschrittenen Stunde und ihrer Kondition kaum noch eine Chance haben sollten, den Gletschersee vor dem Mittag zu erreichen, um anschliessend mit dem letzten Taxi in die Stadt zu gelangen. Die Girls von der Grünen Insel hatten in Anbetracht dessen auch schon beim ersten Bergsee resigniert und den Rückmarch angetreten. Ich holte sie ein, so dass wir sogar noch viertel vor zwölf bei den schlafenden Taxifahrern anklopften. Diese jedoch waren nicht gewillt, uns vor drei Uhr nach Yungay zu fahren, so dass ich spontan einen vorbeikommenden Lastwagen anhielt. Nach einiger Überzeugungsarbeit und Wehleidsvortäuschung durften wir auf die Ladefläche steigen. Auf über hundert (leider) leeren Bierkästen machten wir es uns mehr oder weniger bequem und genossen die schaukelige Fahrt in dieser Art von Cabriolet. Die Rückfahrt dauerte natürlich länger als mit dem Taxi, doch erfreute wir uns der Aussicht und gaben und mühe jeden Campesino am Wegesrand zu grüßen.

Die drei von der Insel.

Es scheint noch die Ausnahme, dass Iren außerhalb Nordamerikas und Australiens bzw. Neuseelands auf Reisen gehen, entsprechend habe ich mich gefreut ihre quirrlichen Dialekte zu hören.Den Rest des Tages plagte mich ein Kopfschmerz, der wohl aus der heftigen Sonneneinstrahlung resultierte.

El viaje en el camiñon

Ein Mann veriet mir, dass ich auf dem Markt einen Kartoffellaster finden würde, der auf direktem Wege nach Leymebamba fährt. Eigentlich hoffte ich ja auf eine Busverbindung, doch eine solche gibt es nur sonntags und dienstags. Blöd, dass heute Monatg ist und auf dem Markt kein Laster weit und breit verkehrt. Am Rondell sollte, wie jeden Morgen, irgendwann ein LKW abfahren. Ich meine jene LKWs, die ausschliesslich Personen und deren Waren transportieren – sie verkehren sogar in den Randbezirken Limas. Ich saß nun mit Sack und Pack am Kreisverkehr und wartete auf meinen Laster. Eine gute halbe Stunde später rollte ein 7,5-Tonner an. Zugleich sicherte ich mir den besten Platz auf dem Führerhaus. Während der LKW noch drei Runden durch die Stadt drehte, um Leute einzusammeln, versuchte ich es mir auf meinem Schlafsack bequem zu machen. Und es dauerte nicht lang, da saß die kleine Isabela neben mir. Mit grossen Augen und etwas schüchtern starrte sie mich an. Mein Bart musste wohl sehr eigenartig auf sie gewirkt haben.

Auf der Ladefläche standen nun dicht geträngt 30 Leute. Ein dudelndes Kofferadio rauschte im Duett mit dem rörigen Dieselmoter. Der Wagen schaukelt und wippt auf den schlechten Bergpisten. Drum herum staubt es. Äste und Zweige peitschen an mir vorbei. Isabela lächelt. Wir unterhalten uns ein bisschen, bis ein Junge hinaufsteigt und ihr stolz wie ein Macho von seinen Kühen und Pferden erzählt. An einer Weggabelung halten wir in einem ‘Restaurant’. Ich schau gar nicht erst, was es zu essen gibt und schlafe statt dessen bis mich die Kinder wecken um mir Tiere (Loros, Affen, Condores) und Pflanzen zu zeigen.

Natürlich denken sie, wie alle auf dem LKW, ich sei ein us-amerikanischer Gringo. Als ich ihnen sage, dass ‘Camiñon’ im Amerikanischen ‘Truck’ heisst, freuen sie sich riesig und wiederholen das Wort immer und immer wieder. Am Ende der Fahrt wissen sie, wie man bis 40 zählt und sich vorstellt. Bei der zweiten Reifenpanne geht Isabela mit ihrer Mutter in ihr Dorf; nahe Balsas. Ihr Lächeln schwindet, kurze Zeit später ist sie mit einem grossen Beutel auf dem Rücken im dichten Urwaldgrün des Rio-Mariñon verschwunden. Auf dem LKW sitzen scheinbar nur noch Leute aus ein und demselben Dorf. Ein Grauhaar mit goldener Armbanduhr konfrontiert mich aus dem Nichts mit europäischer Wirtschaftspolitik und den Folgen von Globalisierung. Ich kann ihm kaum folgen und noch weniger argumentieren. Er ist gebildet und möchte, dass ich ihm zustimme. Hundert Kurven weiter erscheint endlich das ersehnte Dorf meiner Mitreisenden. Mit einem lautstarken ‘Ciao Gringo’ verabschieden sie sich im Chor. Ziemlich genau zum Sonnenuntergang erreichen wir Barro Negro – den Pass auf 3800m Höhe. Von nun an wird es kalt und dunkel. Die beiden Kinder des Lastwagenfahrers schlafen und spielen auf der Ladefläche mit ihrem kleinen Hund. Dem armen Tier kam die Natur und bescherrte mir eine Pfütze um die Schuhsohlen. Gegen 9 Uhr abends erreichen wir nach 11-Stündiger Fahrt Leymembamba.