Stimmt nicht, müßte ich der Richtigkeit halber sagen, denn es gibt eine Straße von Nauta nach Iquitos, doch Nauta ist seinerseits isoliert. Die Orte sind also nur auf dem Luft- oder Wasserweg erreichbar. Der letztere führte mich also dorthin. Durch’s Couchsurfing gelangte ich an Antonio, der seit wenigen Monaten die Produktionen im neuen Fernsehsender Chanal 49 leitet. Für seine zwei kleinen Kinder und seine Frau bleibt ihm deshalb nicht viel Zeit. In einem kleinem Häuschen im Stadtteil San Juan hat er sie untergebracht und mit zwei (nicht gerade fließigen) Haushälterin versorgt. Er gibt mir, ganz großzügig, ein eigenes Zimmer und lädt mich zum Abendessen an seinen Tisch. Wir plaudern über deutsche Fremdenfeindlichkeit und peruanischen Rassismus. Viele Altnazis hätten sich hier in einem der entlegenen Urwalddörfer eine Existenz aufgebaut. Sogar Adolf Hitler, so der Volksmund, wäre hier als Führer eines gänzlich unarischen Stammes alt geworden. Auch ein ehemaliger Bankdirektor in Iquitos hätte sich im Krieg den Deutschen verdient gemacht. Nach so viel Spekulation kamen wir glücklicherweise auf die vor uns stehende Chaufa de Pollo (Hünchen mit gebratenem Reis) zurück. Antonio liebt Filme, doch keine perunanischen. Die seien schlecht. Drum schauten wir uns nach dem Essen auch einen us-amerikaischen Streifen an. Auch sein Programm bei Chanal 49 führte er mir vor – leider war der Empfang mit der Antenne leicht vergrieselt.
Motos und alte Busse ohne Fenster, weils ja so warm ist.
Vormittags wollte ich mich mit Nadine treffen und die Internetseite einer mit ihr befreundeten Heilpraktikerin fixen. Mit falschen Zugangsdaten scheiterte diese Unternehmung bevor sie beginnen konnte. Nadine lebte schon eine ganze Weile in der Stadt der Mototaxis und wollte mich auf den Markt von Belen begleiten. Irgendwann kamen wir auf’s Spanisch-Lernen zu sprechen und stellten mit Verwunderung fest, dass wir die selbe Schule in Cusco besucht und uns um genau einen Tag verpasst hatten. Nun wurde mir klar, dass ich Nadine bereits aus den Erzählungen meiner Mitschüler kannte. So klein ist Peru.
Der Markt von Belen ist groß und schmutzig. Belen ist eigentlich ein Dorf aus Pfahlbauten. Die Holzhäuser mit Dächern aus Palmenwedeln sind während der Regenzeit bzw. des Hochwassers nur per Boot erreichbar. Belen entstand als eine Siedlung von Indianern, die sich am Rande der reichen Kautschukstadt niederliessen, doch niemals ein Teil von ihr wurden.
Auf mich wirkte es abscheulich und bitterarm. In den vergangenen fünf Monaten hatte ich nichts vergleichbares gesehen. Unter den tiefen und schattenspendenden Dächern der Stände konnte man praktisch nachvollziehen, wie aus einem Ei im Laufe der Zeit ein Brathähnchen werden kann. Paletten von Hühnereiern, daneben eine Kückenaufzucht und überall mal ein Huhn, was im Müll herumpickt. Man beobachtet Frauen, die Hühner rupfen, ausnehmen und zerteilen.
Die Abfälle landen auf der Strasse, so dass sich Hunde und Geier nur so darauf stürzen. Die Stände, an denen Frauen verschiedenste Gerichte kochen, braten oder grillen sind so zahlreich, dass sie es trotzdem nicht schaffen, den Geruch von Fisch und Trockefleisch zu übertünchen. Mittendrin, statt nur dabei, sieht man verwahrloste Kinder, die barfuss durch den Biomüll laufen, und Babys, die sich schier unscheinbar, in ein Tuch gehüllt, an den Körper ihrer Mutter schmiegen. Gern werden sie vorgezeigt – mehr aus Kalkül, den ein oder anderen Sol vom Touristen zu erhalten, als aus Freude und Glückseligkeit über den eigenen Nachwuchs. Wenn auch nicht so nachdrücklich, wie am Titikakasee, so verstehen es die Kinder von Belen auch, ihre Armseligkeit wie ein Anti-Modell zur Schau zu stellen.
Die Zeit in Peru hat mich diesbezüglich gelehrt, eine aufmerksame und pragmatische Ignoranz an den Tag zu legen, die ohnehin der gelebten Doppelmoral eines nicht ungebildeten Westeuropäers entsprechen müsste. Mitleid ist das eine, das Festhalten am eigenen Lebenswandel das andere. Ich will damit nicht sagen, dass ich keinerlei persönliche Konsequenzen aus solcherlei Erfahrungen ziehe, doch schlußendlich diskutiert man lieber bei einem Bier mit Freunden über solcherlei Dinge, anstatt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Angesichts der Hitze verbrachten wir den Rest des Nachmittages also mit einem kühlen Bier an der Uferpromenade. Immer wieder mal tauchten ein paar Straßenkinder mit der mehr oder weniger freundlichen Bitte nach Geld auf. Ihr kreativer Geschäftssinn ist beeindruckend und bemitleidenswert zu gleich. Sitzbänke der Motorräder bedecken sie als Schutz vor Sonne und Regen mit Pappe. Autos werden ohne Auffordung und Sichtung des Besitzers poliert. Bonbons aus Tüten werden einzeln verkauft und so weiter …
In Iquitos sind mir auffällig viele prollige Individualreisende, um nicht zu sagen Sextouristen, aufgefallen. Das die Stadt, wie jede andere in Peru, ein erhebliches Problem mit Kinderprostitution zu haben scheint, wird erfreulicherweise öffentlich angeprangert und bekämpft.