Der etwas andere Sonntagsausflug

Wie ich mir schon dachte, war die Ortsangabe der Botschaft wieder mal sehr ungenau. Das Gefängnis befindet sich nicht in Canete (höchstens im Landkreis Canete), sondern zehn Kilometer entfernt, in der Stadt Imperial; oder ganz genau in Nuevo Imperial (Neu Imperial). Diesmal konnte ich günstig mit zwei muffligen Colectivos (Kleinbusse) dort hin fahren. Ja sogar ein Feldweg führte zum Ziel. Was in Huaral der Wüstensand, waren in Imperial die Baumwoll- und Maisfelder am Wegesrand. Statt beißender Kötter, gab es leuchtend rote Vögelchen zu beobachten. Einzig der verhangene Himmel und die Bauweise des Gefängnisses erinnerten an Huaral. Die Wärter waren zwar neugierig, doch lang nicht so skeptisch und hämisch wie in Huaral. Nach langem Anstehen bei der Anmeldung, kam ich irgendwann ins Innere der Anstalt. Es dauerte auch eine Weile bis ich mit einem Wärter den Pavillon herausgefunden hatte, in dem Silvio nun lebt: Numero 5. Also dort, wo auch die meisten anderen Ausländer sind. Sobald ich drin war, sammelte sich, ähnlich wie in Huaral, eine Traube Gefangener um mich, um mit Kuchen, Bonbons und anderem Kram Geld zu verdienen oder zu erbetteln. Auch wenn ich mich nicht unbdeingt freundlich aus der Affäre ziehen konnte, war froh überhaupt in Ruhe gelassen zu werden. Ein paar Andere glaubten mich zu Silvio führen zu können. Zunächst war ich skeptisch, als ich einen langen, dunklen Zellengang durchlaufen sollte und einer mir andauernd die zwei mitgebrachten Beutel abnehmen wollte. Schon wieder musste ich harsch widersprechen. Dann kam ein Typ, der aus der Ferne wie Silvio aussah – ich ging also doch den Gang hinein, doch er war es nicht. Akzentfrei begrüßte mich ein Schwede auf englisch und führte mich zu Silvios Zelle am Ende des Ganges. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet und sinnierte auf seinem Bett. Zum Lesen ist es dort zu dunkel. Die Fenster auf dem Gang haben lamellenartige Schlitze, so dass die Sonne praktisch nur einmal am Tag für ein paar Minuten direkt hineinscheinen kann. Angesichts des kalten Bergwindes und der brütenden Sommerhitze ist diese Anbringung gar nicht so verkehrt. Silvio springt von einem der beiden oberen Betten herunten und gibt mir strahlend die Hand. Er freut sich, meine ich. Sein Zellengenosse macht sogleich sein Bett frei, damit wir uns hinsetzen können. Auf die Frage, wie’s ihm geht, antwortet er: “Gut”. Er erzählte mir, dass er und fast alle anderen Ausländer aus Huaral verlegt wurden. Einige ausländische Botschaften hatten dies schon lange gefordert, um es den Betroffen einfacher zu machen. Am letzten oder vorletzten Donnerstag kamen also sechs Wärter in Silvios Pavillon und riefen alle Extranjeros (Ausländer) zusammen. In großer Eile sollten sie ihre Habe zusammenraffen. Abgesehen von seiner Matratze und ein paar Sachen, die noch auf der Wäscheleine hingen (seine einzige Jeans!!), konnte Silvio alles mitnehmen. Also auch seine hochdosierten Vitamintabletten, die er erst kürzlich aus Deutschland erhalten hatte. Die Matratze fehlt ihm indes schon, denn die sieben Zentimeter starke Schaumstoffunterlage isoliert nicht sonderlich gegenüber der Betonplatte, die gemeinhin als Bett bezeichnet wird. Derer gibt es übrigens vier in Silvios Zelle. Ja, er hat jetzt eine Zelle und muss nicht mehr auf dem Gang schlafen. Das freut ihn natürlich. Auch sein Zellengenossen konnte er sich aussuchen. Alle samt sind keine Peruaner und anständige, drogenfreie Leute, wie er sagt. In der Zelle wird nicht geraucht betont er hinzu. Für ehemalige Traficos (Schmuggler), denke ich, ist das ein mächtiger Gesinnungswandel. Die Wände sind hellblau gestrichen. In einer Ecke gibt es klägliche Ansätze einer Höhlenmalerei – und es ist wirklich finster, wie in einer Höhle; gerade auch weil die Gitter mit Stoff behangen sind, um wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu schaffen. Zwischen den beiden Doppelbetten ist eine Art Duschkabine aus Beton als Toilette konzipiert – ohne Wasser natürlich. Der einzige Trakt mit fließend Wasser kostet 300$ Eintritt und monatlich 100$, um sich mit sechs anderen eine Zelle teilen zu können. Silvio braucht das nicht, denn mit seinen Kollegen wollen sie nun fest anpacken und sehen, dass etwas vorwärts geht. Zunächst wollen sie ihre Zelle renovieren und gründlich säubern. Sobald die Kochuntensilien seines Zellengenossen aus Huaral eingetroffen sind, wollen sie ein kleines Restaurant eröffnen. Unter den Gefangenen sind ein gutes Dutzend verschiedene Nationen und somit auch mindestens so viele verschiedene Weisen zu kochen. Andere Gefangene haben bereits einen kleinen Laden aufgemacht und verkaufen dort ein wenig Essen. Eine gute Möglichkeit Ablenkung und Beschäftigung zu finden, meint Silvioo. Der Pavillon hat auch eine Nähstube, doch wer will da schon hin? Statt dessen überlegt Silvio, ob es sich nicht vielleicht auch lohnen würde, eine kleine Bibliothek aufzumachen. Lesen ist alle mal ein besserer Zeitvertreib als Pasta zu rauschen (Gemisch aus Mariuana und Kokain). Er freute sich über die “Die Zeit”, ein paar Filme und ein weiteres Sachbuch, sowie ein paar Apfelsinen und natürliche Antibiotika (Ingwer, Knoblaub, Zwiebeln). Meine mitgebrachten Lucmas, Avocados und Kiwis durfte ich nicht mit hinein nehmen. Wir sprachen noch eine Weile über die Umstände, die ihn in diese Situation gebrachten hatten und wie ihm nun geholfen werden könnte. Ich werde mich nun doch mal an seinen untätigen Anwalt wenden, damit dieser endlich mal das tut, wo für er bezahlt wurde. Die Zeit für Gespräche verging viel zu schnell und gegen fünf Uhr war die Besuchszeit schon beendet. Ich sagte ihm zum Abschluss, dass ich gespannt bin, was ich in vier Wochen auf der Speisekarte lesen kann und versprach Hunger mitzubringen.

Die Welt ist wirklich ein Dorf

Für meinen halbjährigen Aufenthalt in Peru hatte ich mir vorgenommen, meine Sinne zu schärfen und das Land und seine Bewohner aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Als Sprachschüler, Tourist und Praktikant gewinnt man schon recht tiefe Einblicke, doch die Tahlsohle ist längst nicht in Sicht – auch nicht, wenn man in Gastfamilien wohnt und mit vielen Leuten auf der Straße spricht. Meine Chefs sind da schon offener und gehen mit ihrem Land schärfer ins Gericht. Andere hingegen schweben auf einer patriotischen Wolke und erzählen mir von der Schönheit allen Übels, um ja nicht schlecht da zu stehen – das hieße ja eventuell die eigenen (Mit)Schuld einzugestehen.

Am heutigen Tage machte ich mich auf, die gesellschaftliche Talsohle zu ergründen und bagab mich in ein Gefängnis – allerdings, um dort einen Deutschen zu besuchen. Die Deutsche Botschaft hatte auf meine Anfrage hin, über die Mutter des Inhaftieren, indirekt den Kontakt hergestellt. Die meisten ausländischen Gefangenen werden aufgrund von beabsichtigten oder unbeabsichtigten Drogendelikten oder -schmuggel hier festgehalten. Eine Verurteilung kann sich über Monate hinziehen und bis zu 20 Jahre Haft bedeuten. Eine teilweise Aussetzung auf Bewährung kann nach ein paar Jahren erfolgen, wenngleich die Bewährungzeit hier verbracht werden muss (in solchen Fällen empfiehlt die Botschaft die illegale Flucht aus dem Land). Von Pablo Libre – einem sehr armen Stadtviertel Limas – nahm ich einen lokalen Bus nach Huaral, wo sich das Gefängnis laut meinen Informationen befinden sollte. Der Bus fuhr auf der Pan America Norte – vorbei an den Slumsiedlungen, den Müllbergen und den grau-schwarz verschmutzen Wüstenbergen, die erst nach etlichen Kilometern ihre natürliche gelbe Farbe annehmen sollten. Vom Meer abgewand, folgten Baumwollplantagen, Obstanbaugebiete und viele saftig grüne Kartoffelfelder. Über den Tälern greisten Adler und auf den Äckern zogen Ochsen die Furchen. Ich glaubt nach einer Stunde Fahrt, der Bus würde im Vorstadtslum kurz anhalten, doch es war bereits das Stadtzentrum. Ich kaufte ein paar Mandarinen als Mitbringsel und erkundigte mich bei den Leute nach dem Gefängnis. Sichtlich erstaunt über meine Frage, half man mir ein Taxi dorthin zu arrangieren. Die Informtion aus der Botschaft war reichlich unpräzise. Das Gefängis befindet sich am Rande des Dorfes Aucallama (20min ausserhalb von Haural), am Fuße eines Wüstenberges. Dahin führt keine Straße, nur ein eingefahrener Sandweg schlängelt sich dahin. Große Hunde rennen neben dem Wagen her und schnappen nach meinem Ellebogen, der aus dem Fenster hängt. Die Luft ist so Feucht, dass die Nebelglocke über uns eigentlich zu platzen vermag.

Nach dem ich meinen Reisepass aus meinem Schuh hervorkrame, gewährt man mir den Einlass. Hinter der ersten Sicherheitsbarriere gehe ich auf eine der Toiletten. Das Wasser zum Spülen steht vor der Pissrinne – wie dufte. Nun laufe ich durch einen Metalldetektor und entledige mich meines Gürtels. In einer kleinen Kabine möchte einer der Wächter, dass ich meine Schuhbändel herausziehe. Ich sage ‘nein’ und er hält die Hand für einen Sol auf. Schließlich trete ich in einen der Pavillons ein und bin froh, dass es wirklich eine Person mit dem Namen gibt. Ohne einen Wachman bin ich nun im Bereich der Zellen mit den Gefangenen allein. Ein blonder, mittelgroßer und kräftiger Typ begrüßt mich mit einem Lächeln und stellt sich vor: “Ich bin Silvio” (Namen und Orte geändert). Nach fünf Minuten stellen wir verdutzt fest, dass wir beide zuletzt in Ulm gewohnt haben und sogar ein paar Bekannte miteinander teilen, uns jedoch noch nie zuvor bewusst begegnet sind. Silvio ist gerade mal ein Jahr älter als ich, wirkt sehr ausgeglichen und besonnen. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, vor allem ist er jedoch gesund. Die Botschaft hat ihm eine Matratze und zwei Decken beorgt und lässt ihm in regelmäßigen Abständen auch Geld zukommen. Er sagt, dass er im Pavillon E1 (Bereich des Gefängnisses) ganz gut zurecht kommt, wenngleich die kulturellen Unterschiede enorm sind. Er kann also niemanden vollständig vertrauen, weiss jedoch wie er mit den Leuten umgehen muss. Er lebt mit keinen Schwerverbrechern zusammen in einem Pavillon – das ist schon mal sehr gut. Überhaupt hatte ich einen recht guten Eindruck von dem Pavillon, obwohl es dort für Leute wie Silvio, die keine eigene Zelle haben, auch nur zwei mal täglich fliessend Wasser gibt. Dafür haben sie eine eigene Kochmöglichkeit, wo sich einer der Mitgefangenen häufig als Koch hervortut und Malzeiten verkauft. Silvio hilft ihm manchmal und bekommt nebenbei nicht nur eine kleine Portion Essen, sondern auch ein Lektion in Sachen peruanischer Küche. Natürlich gibt es auch Essen aus der Gefangenenküche, allerdings ist dieses nicht besonders abwechslungsreich (Hähnchen mit Reis – täglich!) und auch hygienisch nicht einwandfrei. Die Reichung von weißem Reis ohne ausreichender Mineralien- und Vitaminzufuhr löst Mangelerscheinungen aus und schädigt den Körper auf Dauer. Silvio weiss sich jedoch andere Lebensmittel zu organisieren – sprich zu erkaufen. Neben diesem faden Mittagessen, gibt es noch ein Frühstück, bestehend aus drei Semmeln mit Marmelade o.ä., und eine Suppe zum Abendbrot. Nachdem ich nun weiß, wie die Besucherprozedur verläuft, werde ich ihm beim nächsten mal auch ein paar mehr Sachen mitbringen. Diesmal waren’s nur Mandarinen, ein paar spanische Tageszeitungen (die deutschen waren vergriffen, als ich gestern welche kaufen wollte) und ein Buch über Gedächtnistraining, worüber er sich sehr gefreut hat. Geistige Fitness scheint ihm wichtig zu sein, weshalb ich mich demnächst auch bei Freunden nach deutschsprachigen Sachbüchern umsehen werde. Die Zeit vertreibt er sich mit Lesen. Sport mag er keinen machen, um seinen Körper zu schonen. Auch die Möglichkeit in der Werkstatt des Pavillons Kunsthandwerk anzufertigen, spricht ihn verständlicher Weise nicht besonders an. Seit ein paar Tagen ist noch ein zweiter Deutscher im Gefängnis, den ich beim nächsten mal mit besuchen werde. Sollte er weiterhin im Pavillon D bleiben, braucht er ganz sicher Hilfe, denn unter Leuten, die lebenslang einsitzen, kann die Lage schnell eskalieren. Drogenkonsum (Coca-Paste rauchen, u.a.) und Gewalt sind an der Tagesordnung, ja sogar Messerstechereien kommen vor. Vor einiger Zeit wurden vier Kilo Cocain sichergestellt. Bis zum Direktor sind alle in die Drogengeschäfte verwickelt.