Halbzeit

Seit nunmehr 90 Tagen bin ich weg von daheim und 90 weitere werde ich in Peru verleben. Es ist also Halbzeit und, wie ich finde, Zeit ein Bilanz zu ziehen, zumal nun auch die Hälfte meines Praktikums hinter mir liegt.Was steht an? Urlaub. Seit fünf Wochen habe ich darauf verzichtet freitags daheim zu bleiben (normal: 36h/Woche an vier Tagen) und habe zudem wochenends mehr oder weniger effektiv meinen Arbeit für die Ulmer Biomechaniker fortgesetzt. Freitag ist Schluss damit. 10 Tage frei. Hoffentlich genug Zeit, um eine kleine Rundreise im Norden zu drehen: Lima > Trujillo > Cajamarca > Kuelap > Chachapoyas (Lagunen, magisches Land?) > Piura > Mancora (Strand, Sonne, surfen?) > Chiclayo (Hexenmarkt) > Lima. Am 8. September will ich für eine Woche im Huaraz-Gebirge (Peruanische Schweiz) wandern gehen. Für den Oktober habe ich mir bislang vorgenommen nach Ayacucho und Abancay zu fahren, vielleicht die Nasca Linien anzusehen, doch auf jeden Fall die ‘Weiße Stadt’ Arequipa zu besuchen, um von da aus in den tiefsten Canon der Welt (Cotahuasi) hinaub und auf den Chanchani (6075m) hinauf zu steigen. Den Rest der Zeit würde ich gern im Amazonas-Regenwald mit einem wissenschaftlichen oder sozialen Praktikum verbringen. Mal sehen, ob ich als Informatiker bei der Datenerhebung, dem Tracking von Tieren oder der Ausbildung (Englisch, PC, www) von Kindern behilflich sein kann.

Lima Zentrum mit der ersten Couchsurferin

Spontan hat sich am Samstag die erste Couchsurferin angesagt: Ines aus Portugal. Wir sind nachts durch ein paar seltsame Clubs getourt und tags durchs Zentrum gelaufen. Lima ist selbst be schönem Wetter nicht gerade eine Vorzeigestadt. Sie erscheint im Zuge ihres Verfalls, als könnte sie sich nicht recht zwischen den alten Kolonialhäusern und Betonklötzern entscheiden. Es war nicht irgend ein Wochenende, sondern jenes des Unabhängigkeitstages. Seit 186 Jahren stehen die Peruaner auf eigenen konstitutionellen Beinen und schreiten damit wirtschaftlich bergauf. Mir fehlt der Vergleich zu Früher, um dies bewerten zu koenen. Auffällig waren an diesem Tag die tausenden, teils riesigen Nationalfahnen. Manipulation pur. El Presidente präsentierte morgens seine ewig erfolglose Armee und erinnerte mich damit an die Paraden, die ich an meinen Geburtstagen im DDR-Fernsehen sehen konnte. Ich glaube kaum, das Alen Garcia (Präsident) damit einen Eindruck auf den technoligisch besser gerüsteten Erzfeind Chile machen konnte. Schluss mit dem politischen Blabla. Wir waren noch im China Town und in den Katakomben des Franziskanersklosters. In letzteren zeigte man uns tausende Gebeine von verstorbenen, welche die Mönche einst in ihrem Kellern sammelten. Zugegeben eine seltsame Ausstellung in einem sehr schönem Bauwerk.

Me, myself and the Peruvians

Mir geht’s gut und ich gewöhne mich immer mehr an die Eigenheiten dieses Landes. Auch wenn ich manchmal vor Ungeduld innerlich koche oder schon gern mal den Stickefinger zücken würde,

  • wenn wieder mal ein hupendes Taxi vorbeischleicht, um mich zum Einstieg zu animieren oder
  • mich wieder mal eine Tussi anquatscht und schon im dritten Satz um ein Getränk bettelt oder
  • wenn ich sehe, wie Leute ohne ein Augenzwinkern ihren Verpackungsmüll auf der Strasse fallen lassen oder
  • wenn ein Latino aus Angst schlecht da zu stehen mir eine perfekte Lüge weiß machen will oder
  • wenn ein Taxifahrer oder Händler immer noch glaubt, dass Touristen doppelt so viel zahlen und ich einer von ihnen bin oder
  • wenn ich sehe, wie Eltern ihre Kinder mit einer Tüte Bonbons zum Betteln an der Ampelkreuzung abstellen oder
  • wenn ich ansehen muss, wie all die (armen) Leute/Kinder so rot unterlaufenen Augen haben, weil sie nur weissen Reis und Geflügel ansatt vitamin- und mineralstoffreicher Kost essen.

Etwas Anpassung kann prinzipiel nicht schaden, doch will ich Gleichgültigkeit vermeiden und lieber – auf gut deutsch – weiter in der Scheisse rühren. Abgesehen davon entwickelt sich so langsam ein kleiner Freundeskreis. Ich spreche mittlerweile sogar schon mit Deutschen Englisch und gerate ins Stocken, wenn mich jemand auf Deutsch anspricht. Mein Spanisch verbessert sich kaum – dank meiner Trägheit.

Das traute Heim?

Es ist bescheiden und ich bemühe mich auch nicht, es schöner zu machen, damit ich nicht zu viel Zeit in der Bude verbringe, um statt dessen auf Tour zu gehen. Ich wohne mit Sir Galahad zusammen. Er singt zwar manchmal etwas schräg und hat’n Fabel für 80er-Mucke, ist aber dafür ständig gut drauf und lebt sorgenfrei von heut auf morgen. In der Küche schaut er immer, dass auch ja ein paar Reste im Tiegel bleiben und sich dadurch die Luft verbessert. Manchmal erreicht er den selben Effekt auch mit einem Wischlappen. Vor kurzem hat er mir gesagt, wie man der Dusche richtig heißes Wasser entlockt. Ich habe wirklich über einen Monat kalt geduscht. Trotzem bleiben mir (unfreiwillige) kalte Duschen erhalten, die bei Regen durch’s Wellblechdach über’m Waschbecken herabtröpfeln. Und da soll noch mal jemand sagen, in Lima würde es nicht regnen.

Ich nenn’s mal Arbeit

Ich schweiße gerade an einem Linux (Ubuntu), dass ein Intranet (Drupal) mit Telefonanlage (Asterix) und E-Mail/Kalender (Zimbra) serviert. Ansonsten muss ich hin und wieder mal ein paar Systeme auf ihrer Tauglichkeit bewerten und ausgegliederte Projekte bei Fremdfirmen betreuen.Die gesammt Belgschaft habe ich nun während dreier Vorträge über Deutschland informiert. Den Direktoren lag sehr daran, deutsche Werte, wie Pünktlichkeit, Ordnung und dieses ich_will_besser_sein_als_X irgendwie in der Firma zu etablieren. Vamos a ver, zumindest freuten sich die Leute jedes Mal, wenn ich ein paar Worte/Begriffe auf Deutsch sagte. Für sie ist das Deutsche einfach so unaussprechlich, wie manch ein spanische Wort für mich: auf die Frage hin, “Welche Produkte Deutschland hauptsächlich exportiert”, wollte ich Autos und “Maginas” (Maschinen) antworten, doch hörte es sich wie “Vaginas” an. Ein Brüller.Ansonsten vermisse ich das Arbeiten im Team, die kreative Fachsimpelei und die Motivation zum zuegigen Arbeiten. Es ist uebrigens derart stressig, dass ich es schaffe, diesen Beitrag zu schreiben. Voy a ver como esta el nuevo practicante de Alemania que trabaja en el area de marketing.

Ein Visum ist mehr als ein Stempel.

Verglichen damit, dass ich für mein erstes Visum mal eben einen Tagesausflug nach Berlin gemacht habe, kostete mich die dreimonatige Verlängerung des Visums in Lima weit mehr Nerven. Erst im dritten Anlauf konnte ich mit Nachdruck und Beharrlichkeit den begehrten Stempel bekommen, für den andere schon mal eine Flasche Wein mitbringen oder sich den Freund eines Freundes aus dem Büro nebenan an die Seite stellen. Leider hatte ich keinen solchen ‘Amtshelfer’ und musste, wie im Film “Asterix erobert Rom” fleissig die Schlangen und Schalter wechseln (allerdings ohne die Leute in den Wahnsinn zu treiben). Eine echte Geduldsprobe, doch tröstet es mich, dass Leid mit Anderen teilen zu können.

Der etwas andere Sonntagsausflug

Wie ich mir schon dachte, war die Ortsangabe der Botschaft wieder mal sehr ungenau. Das Gefängnis befindet sich nicht in Canete (höchstens im Landkreis Canete), sondern zehn Kilometer entfernt, in der Stadt Imperial; oder ganz genau in Nuevo Imperial (Neu Imperial). Diesmal konnte ich günstig mit zwei muffligen Colectivos (Kleinbusse) dort hin fahren. Ja sogar ein Feldweg führte zum Ziel. Was in Huaral der Wüstensand, waren in Imperial die Baumwoll- und Maisfelder am Wegesrand. Statt beißender Kötter, gab es leuchtend rote Vögelchen zu beobachten. Einzig der verhangene Himmel und die Bauweise des Gefängnisses erinnerten an Huaral. Die Wärter waren zwar neugierig, doch lang nicht so skeptisch und hämisch wie in Huaral. Nach langem Anstehen bei der Anmeldung, kam ich irgendwann ins Innere der Anstalt. Es dauerte auch eine Weile bis ich mit einem Wärter den Pavillon herausgefunden hatte, in dem Silvio nun lebt: Numero 5. Also dort, wo auch die meisten anderen Ausländer sind. Sobald ich drin war, sammelte sich, ähnlich wie in Huaral, eine Traube Gefangener um mich, um mit Kuchen, Bonbons und anderem Kram Geld zu verdienen oder zu erbetteln. Auch wenn ich mich nicht unbdeingt freundlich aus der Affäre ziehen konnte, war froh überhaupt in Ruhe gelassen zu werden. Ein paar Andere glaubten mich zu Silvio führen zu können. Zunächst war ich skeptisch, als ich einen langen, dunklen Zellengang durchlaufen sollte und einer mir andauernd die zwei mitgebrachten Beutel abnehmen wollte. Schon wieder musste ich harsch widersprechen. Dann kam ein Typ, der aus der Ferne wie Silvio aussah – ich ging also doch den Gang hinein, doch er war es nicht. Akzentfrei begrüßte mich ein Schwede auf englisch und führte mich zu Silvios Zelle am Ende des Ganges. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet und sinnierte auf seinem Bett. Zum Lesen ist es dort zu dunkel. Die Fenster auf dem Gang haben lamellenartige Schlitze, so dass die Sonne praktisch nur einmal am Tag für ein paar Minuten direkt hineinscheinen kann. Angesichts des kalten Bergwindes und der brütenden Sommerhitze ist diese Anbringung gar nicht so verkehrt. Silvio springt von einem der beiden oberen Betten herunten und gibt mir strahlend die Hand. Er freut sich, meine ich. Sein Zellengenosse macht sogleich sein Bett frei, damit wir uns hinsetzen können. Auf die Frage, wie’s ihm geht, antwortet er: “Gut”. Er erzählte mir, dass er und fast alle anderen Ausländer aus Huaral verlegt wurden. Einige ausländische Botschaften hatten dies schon lange gefordert, um es den Betroffen einfacher zu machen. Am letzten oder vorletzten Donnerstag kamen also sechs Wärter in Silvios Pavillon und riefen alle Extranjeros (Ausländer) zusammen. In großer Eile sollten sie ihre Habe zusammenraffen. Abgesehen von seiner Matratze und ein paar Sachen, die noch auf der Wäscheleine hingen (seine einzige Jeans!!), konnte Silvio alles mitnehmen. Also auch seine hochdosierten Vitamintabletten, die er erst kürzlich aus Deutschland erhalten hatte. Die Matratze fehlt ihm indes schon, denn die sieben Zentimeter starke Schaumstoffunterlage isoliert nicht sonderlich gegenüber der Betonplatte, die gemeinhin als Bett bezeichnet wird. Derer gibt es übrigens vier in Silvios Zelle. Ja, er hat jetzt eine Zelle und muss nicht mehr auf dem Gang schlafen. Das freut ihn natürlich. Auch sein Zellengenossen konnte er sich aussuchen. Alle samt sind keine Peruaner und anständige, drogenfreie Leute, wie er sagt. In der Zelle wird nicht geraucht betont er hinzu. Für ehemalige Traficos (Schmuggler), denke ich, ist das ein mächtiger Gesinnungswandel. Die Wände sind hellblau gestrichen. In einer Ecke gibt es klägliche Ansätze einer Höhlenmalerei – und es ist wirklich finster, wie in einer Höhle; gerade auch weil die Gitter mit Stoff behangen sind, um wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu schaffen. Zwischen den beiden Doppelbetten ist eine Art Duschkabine aus Beton als Toilette konzipiert – ohne Wasser natürlich. Der einzige Trakt mit fließend Wasser kostet 300$ Eintritt und monatlich 100$, um sich mit sechs anderen eine Zelle teilen zu können. Silvio braucht das nicht, denn mit seinen Kollegen wollen sie nun fest anpacken und sehen, dass etwas vorwärts geht. Zunächst wollen sie ihre Zelle renovieren und gründlich säubern. Sobald die Kochuntensilien seines Zellengenossen aus Huaral eingetroffen sind, wollen sie ein kleines Restaurant eröffnen. Unter den Gefangenen sind ein gutes Dutzend verschiedene Nationen und somit auch mindestens so viele verschiedene Weisen zu kochen. Andere Gefangene haben bereits einen kleinen Laden aufgemacht und verkaufen dort ein wenig Essen. Eine gute Möglichkeit Ablenkung und Beschäftigung zu finden, meint Silvioo. Der Pavillon hat auch eine Nähstube, doch wer will da schon hin? Statt dessen überlegt Silvio, ob es sich nicht vielleicht auch lohnen würde, eine kleine Bibliothek aufzumachen. Lesen ist alle mal ein besserer Zeitvertreib als Pasta zu rauschen (Gemisch aus Mariuana und Kokain). Er freute sich über die “Die Zeit”, ein paar Filme und ein weiteres Sachbuch, sowie ein paar Apfelsinen und natürliche Antibiotika (Ingwer, Knoblaub, Zwiebeln). Meine mitgebrachten Lucmas, Avocados und Kiwis durfte ich nicht mit hinein nehmen. Wir sprachen noch eine Weile über die Umstände, die ihn in diese Situation gebrachten hatten und wie ihm nun geholfen werden könnte. Ich werde mich nun doch mal an seinen untätigen Anwalt wenden, damit dieser endlich mal das tut, wo für er bezahlt wurde. Die Zeit für Gespräche verging viel zu schnell und gegen fünf Uhr war die Besuchszeit schon beendet. Ich sagte ihm zum Abschluss, dass ich gespannt bin, was ich in vier Wochen auf der Speisekarte lesen kann und versprach Hunger mitzubringen.