Am 29 Mai hielt ich einen Vortrag bei der re:publica 2024 in Berlin. Ich habe ja schon an einigen seltsamen Orten wie Kirchen, Schlössern, Punk-Clubs und Friedhöfen Vorträge halten dürfen, aber eine Freilichtbühne vor dutzenden Liegestühlen war noch nicht dabei. Bei leichtem Sonnenschein wirkte das Publikum dann auch entsprechend entspannt.
Das Thema des Vortrags war bewusst provokativ gewählt. Mit dem Reversed Big Brother Principle wollte ich ein Konzept zur Diskussion stellen, was mir vor über 20 Jahren bei der Arbeit im AK Vorrat zum ersten Mal begegnet ist. Es beschreibt einen Weg, staatliche Überwachung gegenüber den betroffenen Bürgern transparent zu machen. In Estland wird dieses Prinzip zur Anwendung gebracht, indem behördliche Zugriffe auf Daten von Bürgern in einem Verzeichnis aufgelistet sind. Eine Bürgerin kann dort beispielsweise einsehen, wann welche Steuerbehörde oder Polizeidienststelle welche Daten von ihr abgerufen hat. Durch den Einsatz von Monitoring-Instrumente im Kontext von der universitären Lehre können wir freilich nicht von einem Big Brother sprechen, da Lehrende teilweise nur durch die Hilfe von Learning-Analytics-Instrumente in die Lage versetzt werden, die Lernprozesse und -ergebnisse von größeren Studierendengruppen zu beobachten und ggf. darauf zu reagieren. Sofern diese Instrumente zum Einsatz kommen, wissen Studierende auch, welche Daten von ihnen erfasst und den Lehrenden zusammengefasst angezeigt werden. Es ist jedoch gerade in Forschungskontexten den betroffenen Studierenden nicht immer klar, welche der vielen erhobenen Daten überhaupt durch Lehrpersonen verwendet werden und welche nicht. Studierende haben mir diese Frage schon einige Male gestellt und damit indirekt angedeutet, dass sie nicht so recht wissen, was die Lehrperson in einem Onlinekurs macht und nicht macht. Lehrpersonen sind in (asynchronen) Onlinekursen nämlich kaum sichtbar. Studierende sehen nicht, wenn Lehrende ihr Teacher Dashboard benutzen. Sie sehen die Lehrpersonen aber auch nicht, wenn sie Kursmaterialien ändern, den Kursraum betreten, an den Aufgabenkorrekturen arbeiten oder in irgendeinem Kursforum einen Betrag hinterlassen haben. Das Reversed Big Brother Principle in Learning Analytics richtet sich also darauf, die Lehraktivitäten von Lehrpersonen gegenüber Studierenden sichtbar zu machen.
In dem Vortrag habe ich vorläufige Ergebnisse einer Befragung von 372 Studierenden und 69 Lehrenden vorgestellt, in der sie darlegen, welche Lehraktivitäten sie gern sehen möchten bzw. gegenüber Studierenden preisgeben möchten. Überraschenderweise liegen die Zustimmungswerte zwischen Studierenden und Lehrenden nah beisammen. Lehrende sind also durchaus bereit im Sinne der Reziprozität ihr Lehrverhalten tracken zu lassen, sodass es Studierenden in einem Teaching Dashboard auf einem Blick einsehen können. Für die Forschung im Bereich Learning Analytics ergibt sich damit ein neues Forschungsfeld, in dem grundsätzlich auch Methoden der Visualisierung, Selbstregulationsunterstützung und Vorhersagen zum Einsatz kommen können. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass es hierbei nicht um die Leistungsbewertung Lehrenden geht und auch ein Vergleich von Lehrenden ausgeschlossen wird.
Die vollständigen Ergebnisse dieser Untersuchung werden im Laufe des Junis als Preprint veröffentlicht.